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60. Das allein ist schon ein vollgültiger Beweis seiner Gottesfurcht, wie es auch ein Beispiel seiner menschlich treuen, liebevollen Gesinnung ist. Was er den Armen S. 351 zudachte, das wies er ja Gott zu: „Denn wer den Armen gibt, der leiht Gott auf Wucher;“1 und indem er forderte, ihnen zu geben, was gerecht sei, hinterließ er ihnen nicht wenig, sondern Alles. Das ist ja erst die Fülle der Gerechtigkeit, zu verkaufen, was man hat, und es den Armen zu geben. Denn „wer ausstreut und den Armen gibt, dessen Gerechtigkeit bleibt ewiglich.“2 So hat er denn uns eigentlich nur als Vertheiler seiner Hinterlassenschaft, nicht als Erben eingesetzt: die Erbschaft ist für den Nachfolger in Frage gestellt, die Vertheilung an die Armen zur Pflicht gemacht.
61. Man darf also ohne Unrecht sagen, daß der heilige Geist uns durch die Stimme unseres jugendlichen Lectors heute gesagt hat, wie Jener eigentlich war: „Unschuldig an Händen und rein von Herzen war er, der seine Seele nicht gebrauchte zum Eiteln, nie gegen seinen Nächsten trügerisch war: das ist das Geschlecht, das nach Gott verlanget.“3 Er wird deßhalb auch zum Berge des Herrn hinansteigen und in den Zelten Gottes wohnen; denn „ohne Makel ging er einher und übte Gerechtigkeit; die Wahrheit sprach er, und den Nächsten hat er nicht getäuscht.“4 Sein Geld hat er nicht auf Wucher gegeben, er wollte nur das Ererbte bewahren. Ich erkenne den Gottesspruch an: was durch letztwillige Verfügung nicht geordnet ist, das hat der Geist Gottes kund gemacht.
62. Wie soll ich aber zur Schätzung bringen, daß er selbst über die Gerechtigkeit hinaus in seiner Frömmigkeit vorschritt? So war er einmal der Meinung, es müsse Jemandem, der den Nießbrauch unserer gemeinschaftlichen Grundstücke unrechtmäßig besaß, mit Rücksicht auf mein Amt etwas zugewendet werden: nachher aber rühmte er mich als den freigebigen Spender, obwohl er den S. 352 Gewinn, der auf seinen Theil fiel, vollständig der gemeinsamen Verwaltung zuführte.
63. Dieses und so manches Andere, was mir damals hohe Freude bereitete, ruft jetzt die Erinnerung meines Schmerzes wach. Es bleibt aber doch, wird auch immer bleiben und geht nicht wie ein Schatten vorüber, weil die Gnadengabe der Tugend nicht mit dem Leibe stirbt, und weil das Ende der Verdienste noch keineswegs zusammenfällt mit dem Ende der Natur: ja selbst der Gebrauch der Natur hört nicht für ewig auf, sie ersteht vielmehr nach zeitweiliger Ruhe.
64. Wenn ich nun über ihn, den solche Tugenden schmückten, der den Gefahren entrissen war, weine, so entspringt das mehr aus der tiefen Sehnsucht nach dem Geschiedenen als aus dem Verluste. Schon die Zeit des Todesfalles darf uns zu der Überzeugung bringen, daß wir ihm mehr unsere Huld als unsere Trauer folgen lassen: es steht ja geschrieben, daß im allgemeinen Schmerze der eigene Schmerz schweigen soll.5 Das ist nun in prophetischer Rede nicht bloß jenem einen Weibe, sondern allen einzelnen gesagt, da es ja der Kirche gesagt zu sein scheint.
