3.
10. Indessen haben wir mit den Thränen eine schwere Schuld uns sicher nicht aufgeladen: nicht jedes Weinen ist ja Ausfluß des Unglaubens oder der Schwachherzigkeit. Ein Anderes ist der Schmerz der Natur, ein Anderes das Klagen des Mißtrauens, und es liegt gar weit von einander ab, das zu wünschen, was man besessen und das zu betrauern, was man verloren hat. Hat ja auch nicht bloß der Schmerz, sondern ebenso die Freude Thränen! Die Hingabe an Gott weckt die Thränen, das Gebet läßt sie über das Lager ausströmen nach jenem bekannten Worte des Psalmisten. So erhoben auch die Hinterbliebenen ein großes Klagen, als die Patriarchen bestattet wurden. Es sind also die Thränen Zeugen der Ergebenheit, nicht die Anlocker des Schmerzes.1 Also habe auch ich geweint, ich will es gestehen; aber auch der Herr hat geweint. Er beweinte einen Fremden: ich den Bruder. Er beweinte in dem Einen Alle, ich werde in Allen dich beweinen, mein Bruder!
11. Der Herr weinte in unserer Natur (unserem Zustand), nicht in der ihm eigenen: denn die Gottheit hat keine Thränen. Er weinte, wie er auch traurig war; er weinte in der Natur, in der er auch gekreuzigt, gestorben und begraben ist; er weinte in der Natur, von der heute der Psalmist uns kündet, wenn er sagt: „Sagen wird die Mutter Sion: ein Mensch, S. 329 ja ein Mensch ist in ihr geboren, und er selbst hat sie gegründet, der Allerhöchste.“2 In der Natur hat er geweint, in welcher er Sion seine Mutter nannte, geboren in Judäa, Fleisch geworden aus der Jungfrau. Er konnte ja nach seiner Gottheit keine Mutter haben, weil er selbst der Schöpfer der Mutter ist. Geworden ist er nicht in göttlicher, sondern nur in menschlicher Geburt; Mensch ist er geworden, als Gott ist er von Ewigkeit geboren.
12. So heißt es auch anderswo: „Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt.“ „Kind“ heißt er zur Bezeichnung des Alters, „Sohn“, weil die Fülle der Gottheit in ihm ruht. Geworden ist er aus der Mutter, geboren von Ewigkeit vom Vater; es ist derselbe, der „geboren“ und der uns „geschenkt“ ist: der eine Sohn Gottes, der von Ewigkeit vom Vater geboren wird, der Fleisch angenommen hat aus der Jungfrau in verschiedener Ordnung, aber mit einem Namen bezeichnet. So heißt es auch in der Lesung des Tages: „Ein Mensch ist in ihr geboren, und er selbst hat sie gegründet, der Allerhöchste“, Mensch dem Leibe nach, an Macht der Höchste. Und wenn auch rücksichtlich des Naturunterschiedes Gott und Mensch, so ist er doch in beiden Naturen Einer und derselbe, nicht ein Anderer (Zweiter). Etwas Anderes ist also das, was ihm seiner Natur nach eigenthümlich ist, etwas Anderes, was er S. 330 mit uns gemein hat; aber in Beiden ist er (nur) Einer, in Beiden vollkommen.
13. Darum darf es uns auch nicht Wunder nehmen, daß ihn Gott zum Herrn und Messias gemacht hat; ihn, der seinem leiblichen Dasein nach den Namen Jesus erhielt, von dem auch David schreibt: „Die Mutter wird zu Sion sagen: Ein Mensch, ja ein Mensch ist in ihr geboren.“ Als Mensch Gewordener aber ist er allerdings (dem Vater) unähnlich nicht durch die Gottheit, sondern durch die Leiblichkeit; er ist nicht losgetrennt vom Vater, aber unterschieden in seinem (Erlöser-) Amte; er bleibt mit ihm in Machtgemeinschaft, ist aber von ihm geschieden in seinem geheimnißvollen Leiden.
14. Die Auseinandersetzung dieser Stelle heischte noch gar Vieles, um zu beweisen die Majestät des Vaters, die Selbstständigkeit des Sohnes, die Einheit der ganzen Dreifaltigkeit: ich habe indessen heute das Amt, zu trösten, keineswegs das Amt, Streitfragen zu behandlen. Allerdings pflegt man gerade, um zu trösten, den Geist durch die Richtung auf andere Fragen abzulenken: ich will aber keineswegs die Regung des Schmerzes schlechthin erdrücken; — ich will vielmehr den Schmerz selbst nur mildern, so zwar, daß die Sehnsucht sich mäßigt, nicht ausgetilgt wird. Deßhalb mag ich denn auch nicht gar zu weit von dem Bruder abschweifen: diese Rede ist ja doch nur übernommen, um ihn gleichsam zu begleiten; um mit unserem Gefühle dem Scheidenden noch ferner zu folgen; um ihn, den unsere Augen hier sehen, mit dem Herzen auch zu umschließen. Ja den vollen Blick der Augen wollen wir auf ihm haften lassen; mit allen Regungen unseres Herzens wollen wir bei ihm weilen, mit der ganzen Hingabe süßer Zärtlichkeit ihm nahen. Obgleich mein Geist erstarrt, wähne ich doch den nicht verloren, den ich hier gegenwärtig erblicke; ich glaube den nicht gestorben, für den ich die Gefühle noch nicht vermisse, denen ich mein ganzes Leben, jeden Hauch geweiht hatte.
„Lacrymae ergo pietatis indices, non illices doloris.“ ↩
Ps. 86, 5 [Hebr. Ps. 87, 5]. Man wird nicht leicht die Berechtigung des obigen Citates nachweisen können. Wir haben in der Uebersetzung uns dem Gedanken des heil. Ambrosius etwas anpassen müssen und das „homo et homo factus est“ als eine Verstärkung „ja ein Mensch“ gefaßt. Im Psalmentexte preist der Dichter die Herrlichkeit des neuen Jerusalem, in welches die Völker eingehen. V. 5 heißt es dann: „Und zu Sion wird einst gesagt: יֻלַד בָּהּ אִישׁ וְאִישׁ [isch weisch julad bah] Mann um Mann ist geboren in ihr, und er hält sie in Bestand, der Höchste.“ Der heil. Ambrosius deutet das auf die Menschwerdung des Sohnes Gottes und behält auch in den folgenden Abschnitten diese Deutung bei. ↩
