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21. Ich fühle, wie bei dem Gedanken an all’ deine Dienstleistungen, bei Erwägung deiner Tugenden mein Gemüth erregt wird; und doch finde ich in dieser Erregung selbst meine Ruhe: obgleich die Erinnerung meinen Schmerz erneuert, bereitet sie mir doch auch Freude. Oder wird es denn möglich sein, daß ich entweder dein überhaupt nicht mehr, oder auch nur ohne Thränen gedenke? Was gibt es denn für mich Angenehmes, das nicht in dir seinen Grund hätte? Was hat denn jemals mir ohne dich, was hat dir ohne mich Freude bereitet? Hatten wir denn nicht volle S. 334 Lebensgemeinschaft, so daß selbst das Auge sich im Schlafe zu gleicher Zeit schloß? War unsere Willensmeinung jemals verschieden? war unser Weg nicht derselbe, so daß man Schritt für Schritt kaum unterscheiden konnte, wer den Fuß höbe?
22. Mußte aber bisweilen der Eine ohne den Anderen fortschreiten, und wenn du dann meine Seite schutzlos, mein Antlitz erregt, mein Gemüth traurig fandest: dann erglänzte auch in dir nicht die gewohnte Huld, die gewohnte Kraft. Alle überschlich dann die Furcht, als müsse die leidige Vereinsamung die Erkrankung des Einen oder Anderen herbeiführen. So sehr erschien es Allen als unerhört, daß wir getrennt würden. Ich selbst habe in meiner Ungeduld über die Abwesenheit meines Bruders oft genug das Haupt gewandt, um ihn, als wäre er gegenwärtig, zu suchen; ich redete mir dann wohl ein, ihn zu schauen, zu ihm zu reden. Fiel ich dann aber aus meiner Hoffnung, dann fühlte ich, ein wie schweres Joch ich gebeugten Hauptes trug: es schien mir, als wenn ich nur schwerfällig, furchtsam fortschritte, aber eilends den Fuß zurückzöge, weil ich ohne dich nicht vorgehen mochte.
23. Wo wir aber beide zusammengingen, da waren auf dem Wege kaum mehr Tritte, als Worte; weniger um das Wandeln war es uns zu thun, als um die Unterhaltung: wir hingen gegenseitig, der Eine an des Andern Munde. Da dachten wir nicht daran, aufmerksamen Auges den Weg zurück zu legen, sondern nur daran, die besorgten Reden gegenseitig zu vernehmen, die Huld der Augen zu schöpfen, den Anblick des brüderlichen Bildes zu kosten. Wie oft habe ich da schweigend in mir deine Vorzüge bewundert! wie habe ich jubelnd mich beglückwünscht, daß der Herr mir einen solchen Bruder geschenkt hatte, der so rein, so unschuldig, so einfach und doch so thatkräftig war! Betrachtete ich deine Einfalt, dann schien mir unglaublich deine Thatkraft; faßte ich deine Thatkraft ins Auge, dann wollte mir wieder deine Einfalt unglaublich erscheinen! Und doch verbandest du beides mit wunderbarer Gewalt!
24. Was wir beide dann nicht zu Ende führen konnten S. 335 das hast du allein vollbracht. Prosper wünschte sich, wie ich höre, schon Glück, weil er glaubte, er brauche anläßlich meines Priesterthums nicht mehr zurückzuerstatten, was er schuldete; aber er hat deine Thatkraft erprobt, die für sich allein schärfer war, als die beider. Er hat seine Verpflichtungen sämmtlich erfüllt nicht ohne Anerkennung deiner Mäßigkeit, aber auch nicht ohne einen Anflug von Scham. — Und für wen, mein Bruder, hast du Alles erstrebt? Wir wünschten, daß das der Preis deiner Mühen sei, was auch Beweis für dieselben war. Alles hast du zu Ende geführt, und als du dann nach Abwickelung der Geschäfte zurückkehrtest, da wurdest du allein, der du mehr werth warest als Alles, uns entrissen: als hättest du nur deßhalb den Tod hingehalten, um erst die übernommene Liebespflicht zu erfüllen und die Palme deiner Thatkraft zu verdienen.
25. Wie haben uns selbst die Ehren dieser Welt gar nicht erfreut, weil sie uns von einander trennten! Wir haben sie denn auch angenommen, nicht weil ihre Annahme wünschenswerth war, sondern nur um den Schein einer thörichten Verstellung zu vermeiden. Vielleicht sind sie uns aber auch um deßwillen zu Theil geworden, damit wir lernen sollten, getrennt von einander zu leben, weil das Ende unserer Freude doch durch deinen vorzeitigen Tod in Aussicht stand.
