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Geliebteste! Unsere geheimnisvolle Erlösung, die der Schöpfer des Weltalls um den Preis seines Blutes erkauft hat, vollzog sich vom Tage seiner Geburt bis zum Ende seines Leidens durch gewollte Erniedrigung. Mögen auch an der Knechtsgestalt des Herrn gar viele Anzeichen seines göttlichen Wesens glänzend zutage getreten sein, so diente doch sein Wirken in jener Zeit vor allem dazu, die Wahrheit der angenommenen menschlichen Natur zu beweisen. Erst als nach seinem Leiden die Bande des Todes gesprengt waren, der auf seinem Zuge durch die Welt auch den seine Macht fühlen ließ, der die Sünde nicht kannte1 , ging die Schwachheit über in Kraft, die Sterblichkeit in ewiges Leben und die Schmach in Herrlichkeit. Diese führte unser Herr Jesus Christus vielen klar und deutlich vor Augen2 , bis er den Triumph seines Sieges, den er über den Tod errungen hatte, auch durch seinen Einzug in den Himmel feierte. Wie wir am Osterfeste S. 396Ursache hatten, uns über die Auferstehung des Herrn zu freuen, so gibt uns auch jetzt wieder seine Himmelfahrt dazu Anlaß. Heute begehen und feiern wir ja mit Recht den Tag, an dem Christus unsere niedrige Natur über alle himmlischen Heerscharen, über alle Chöre der Engel und all ihre erhabenen Mächte auf den Thron seines Vaters emporhob. Unserer Festigung, unserer Förderung diente diese Aufeinanderfolge der Taten des Herrn: Sollte sich doch die Wirksamkeit der göttlichen Gnade in noch wunderbarerem Lichte offenbaren, wenn dem Blicke des Menschen entzogen wird, was notwendig Ehrfurcht erwecken muß, und trotzdem der Glaube nicht versagt, die Hoffnung nicht wankt und die Liebe nicht erkaltet. Denn darin zeigt sich die Stärke großer Geister, darin die Erleuchtung gläubiger Seelen, daß sie bereitwillig für wahr halten, was sie nicht mit körperlichem Auge sehen, daß sie dorthin ihr Sehnen richten, wohin ihr Blick nicht zu dringen vermag. Wie könnte aber dieser fromme Sinn in unserem Herzen entstehen oder jemand Rechtfertigung durch den Glauben finden3 , wenn unser Heil nur auf dem beruhte, was sich unseren leiblichen Augen darbietet? Darum sprach auch der Herr zu jenem Manne, der an der Auferstehung Christi zu zweifeln schien, wenn er nicht an dem Leibe Jesu selber die Wundmale seines Leidens durch Beschauen und Betasten als wahr befunden hätte: „Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt; selig sind diejenigen, die nicht gesehen und doch geglaubt haben“4
