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Geliebteste! Die höchste Stufe aller Tugenden und die vollkommenste Gerechtigkeit erreicht man durch die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Diese Liebe zeigt sich wohl wahrhaftig bei niemand in herrlicherer Weise und im strahlenderem Lichte als bei den hochseligen Märtyrern, die unseren Herrn Jesus Christus, der für die ganze Welt gestorben ist, ebensosehr durch die Nachahmung seiner Selbstverleugnung wie durch die Ähnlichkeit ihres Leidens nahestehen. Obwohl niemands Opfersinn der Liebe gleichkommen kann, durch die uns der Herr erlöst hat1 , S. 444da es etwas ganz anderes ist, wenn ein dem Tode tributpflichtiger Mensch für den „Gerechten“ stirbt, als wenn einer, über den der Tod keine Gewalt hat, sich für die „Sünder“ dahingibt2 , so haben doch auch die Märtyrer allen Menschen reichen Segen gebracht. Der Herr beabsichtigte mit ihrem Starkmute, mit dem er sie bedachte, daß die Todesstrafe und die Schrecken des Kreuzes keinem der Seinigen Furcht einflößen sollten, sondern daß viele zur Nachahmung ermuntert würden. Wenn nun kein edler Mensch ohne Einfluß auf die andern bleibt, wenn niemands Weisheit nur ihm allein zugute kommen kann, wenn das das Wesen wahrer Tugenden ist, daß sie den von ihrem Lichte Erleuchteten aus der Finsternis des Irrtums herausführt, dann gibt es kein zweckmäßigeres Vobild, um das Volk Gottes zu unterweisen, als das der Märtyrer. Mag es einem beredten Manne leicht gelingen, etwas zu erbitten, mögen Vernunftgründe noch so wirksam sein, um jemand zu überzeugen, immer liegt eine stärkere Kraft in Beispielen als in Worten. Größeren Wert hat die Belehrung durch die Tat als durch Mahnung.
