IV.
Darauf sprach ich: Ich gestehe und sehe, daß nicht mit Unrecht gesagt wird, daß die Lasterhaften nur dem Schein nach einen menschlichen Körper behalten, aber den Eigenschaften des Geistes nach sich in wilde Tiere verwandeln. Doch daß ihr wilder und frevelhafter Sinn zum Verderben der Guten wütet, eben das hätte ich gewünscht, stände ihnen nicht frei. – Es steht ihnen auch nicht frei, sagte sie, wie an passendem Ort gezeigt werden soll, sondern es würde vielmehr, wenn ihnen eben das genommen würde, was wie man glaubt ihnen frei steht, ein großer Teil der Strafe der Frevler in Wegfall kommen. Denn so unglaublich dies vielleicht auch manchem scheinen mag, die Schlechten sind notgedrungen unglücklicher, wenn sie ihr Begehren vollführen, als wenn sie ihre Wünsche nicht erfüllen können. Denn wenn es schon Elend ist, Schlechtes zu wollen, so ist es noch mehr Elend, es zu können, weil ohne das die Wirkung des elenden Willens fortfiele. Da also jeder einzelne sein eigenes Elend hat, müssen die durch dreifaches Unheil bedrängt sein, bei denen du siehst, daß sie den Frevel wollen, können, vollbringen. – Ich gebe es zu, sprach ich, aber daß sie dieses Unheil schnell entbehren und die Möglichkeit den Frevel zu vollführen verlieren möchten, wünsche ich heftig. – Sie werden ihn schneller entbehren, sagte sie, als du vielleicht willst, oder als sie selber glauben. Denn nichts ist innerhalb dieser kurzen Lebensgrenze so spät, daß es zumal einem unsterblichen Geist zu erwarten zu lange sei; denn ihre große Hoffnung, ihr aufragendes Gerüst von Freveltaten wird oft durch ein unerwartetes Ende zerstört, das aber wenigstens ihrem Elend eine Schranke setzt. Denn wenn die S. 133 Schlechtigkeit sie elend macht, so muß der, welcher länger schlecht ist, auch notwendig länger elend sein, und ich würde sie am allerelendesten halten, wenn nicht wenigstens der Tod zuletzt ihre Bosheit beendete. Wenn wir also über die Unseligkeit der Schlechtigkeit richtig geschlossen haben, so erhellt, daß ein unbegrenztes Elend das sei, dessen Ewigkeit feststeht.
Darauf ich: Ein wunderlicher Schluß, dem schwer zuzustimmen ist; aber ich erkenne, daß er mit dem früher Zugestandenen nur zu sehr übereinstimmt. – Richtig schätzest du, sagte sie, aber wer es für hart hält, einem Schluß beizutreten, der muß billiger Weise entweder eine falsche Voraussetzung nachweisen, oder zeigen, daß die Verknüpfung der einzelnen Sätze nicht einen notwendigen Schluß bewirke. Sonst gibt es bei zugestandenen Voraussetzungen nichts weiter, weshalb man über eine Schlußfolge schelten dürfte. Denn auch das, was ich jetzt sagen werde, scheint nicht minder wunderbar, aber es folgt aus dem, was bereits angenommen ist, ebenso notwendig. – Was denn? sprach ich. – Daß die Bösen, wenn sie ihre Strafe abbüßen, glücklicher sind, als wenn sie keine Strafe der Gerechtigkeit zügelt. Jetzt denke ich nicht daran, was hierbei vielleicht manchem in den Sinn kommt, daß schlechte Sitten durch Vergeltung gebessert und zum Rechten geführt werden durch den Schrecken der Hinrichtung, wodurch andern ein Beispiel gegeben wird, die Schuld zu vermeiden, sondern ich meine, daß auf eine andere Weise die Bösen, wenn sie nicht bestraft werden, unglücklicher sind, auch wenn man keine Rücksicht auf Besserung und abschreckendes Beispiel nimmt. – Und was für eine Art außer diesen gäbe es? sagte ich. – Und jene: Daß die Guten glücklich, die Schlechten elend sind, haben wir doch zugestanden? – So ist es, sagte ich. – Wenn also dem Elend eines Menschen etwas Gutes hinzugefügt wird, ist er dann nicht glücklicher als der, dessen Elend rein und einsam, ohne eine Beimischung des Guten ist?–So scheint es, sagte ich. – Wie wenn nun diesem Elenden, der alles Gute entbehrt, außer dem, wodurch er elend ist, noch ein weiteres Übel hinzugefügt wird, ist er nicht weit unglücklicher zu achten als der, dessen Unseligkeit durch einen Anteil am Guten erleichtert wird? – Wie denn nicht? sagte ich. . – Aber offenbar ist es gerecht, daß die Bösen bestraft werden, und unbillig, daß sie straflos entrinnen. – Wer möchte das leugnen ? – Aber nicht einmal das wird man leugnen, sprach sie, daß alles gut ist, was gerecht ist, und hingegen schlecht, was ungerecht ist. – Das ist offenbar, antwortete ich. – Den Unredlichen ist, wenn sie bestraft werden, etwas Gutes verbunden, nämlich die Strafe selbst, die unter dem Gesichtspunkte der Gerechtigkeit gut ist. Wenn diese aber ohne Strafe bleiben, dann wohnt ihnen ein weiteres Übel inne, die Straflosigkeit selbst, die du auf Grund ihrer Unbilligkeit als Übel zugegeben hast. – Ich kann es nicht leugnen. – S. 135 Also sind die Bösen, die mit einer ungerechten Straflosigkeit begabt sind, weit unglücklicher als die mit gerechter Vergeltung bestraften.
Darauf ich: Das ist folgerichtig nach dem, was vorher erschlossen ist. Aber bitte, sprach ich weiter, lässest du keine Strafe der Seelen, nachdem der Körper dem Tode verfallen, bestehen? – Freilich, sprach sie, große, und ich glaube, daß die einen mit aller Schärfe der Strafe, die andern mit der Milde der Reinigung vollzogen werden. Aber jetzt ist es nicht meine Absicht hierüber in Erörterungen einzutreten. Bisher haben wir das verhandelt, was dir am unwürdigsten erschien, die Macht der Bösen, die du als ein Nichts erkennen solltest, du solltest sehen, daß die, über deren Straflosigkeit du klagst, niemals ohne Strafe ihrer Ruchlosigkeit bleiben, du solltest lernen, daß jene Willkür, um deren rasches Ende du batest, nicht lange daure, und daß jene um so unglücklicher seien, je länger sie daure, und am unglücklichsten, wenn sie ewig wäre, danach, daß die Bösen elender sind, die in ungerechter Straflosigkeit durchschlüpfen, als die durch gerechte Vergeltung bestraft sind. Die Folge dieses Satzes ist, daß sie gerade dann von schwersten Strafen bedrängt werden, wenn man sie unbestraft glaubt. – Darauf ich: Wenn ich deine Gründe betrachte, so meine ich, daß nichts Wahreres gesagt werde. Aber wenn ich mich zum Urteil der Menschen zurückwende, wer ist dann, dem dies nicht nur unglaublich, sondern auch unerhört erschiene? – So ist es, sagte jene, denn sie können nicht ihre an Finsternis gewöhnten Augen zum Lichte einleuchtender Wahrheit erheben; sie sind solchen Vögeln ähnlich, deren Sehkraft die Nacht erhellt, der Tag blendet; denn indem sie nicht die Ordmmg der Dinge, sondern ihre eigene Leidenschaft anblicken, halten sie Willkür oder Straflosigkeit der Frevler für Glück. Siehe aber zu, was das ewige Gesetz bestimmt. Gleiche dem Besseren deinen Geist an und du brauchst keinen belohnenden Richter, du hast dich selbst zu den Edleren geschart. Beuge aber dein Streben zum Schlechten herab, dann suche draußen keinen Rächer, du hast dich selber in die Tiefen herabgestoßen; gleichwie wenn du abwechselnd den schmutzigen Erdboden und den Himmel anschaust, alles außerhalb übergehend, du kraft deiner eigenen Augen jetzt im Kot, jetzt unter den Sternen zu weilen scheinst. Aber das gemeine Volk sieht das nicht ein. Wie also, wollen wir denen beitreten, die wir den wilden Tieren gleichgesetzt haben? Wenn jemand nach Verlust des Gesichtes auch vergäße, daß er eine Sehkraft besessen habe, und nun meinte, daß ihm nichts zu menschlicher Vollendung fehle, würden auch wir, die Sehenden, dasselbe wie der Blinde glauben? So wird man sich nicht dabei beruhigen, weil es auf ebenso sicheren und festen Gründen beruht, daß die unglücklicher sind, welche Unrecht tun, als die es leiden.
S. 137 Ich möchte, sagte ich, diese Gründe selbst hören. – Leugnest du, sprach sie, daß jeder Böse der Strafe würdig sei? – Keineswegs. – Daß aber die unglücklich sind, die böse sind, erhellt nun schon vielfach. – Ja, sagte ich. – Daß also die der Strafe würdig sind, elend sind, zweifelst du nicht. – Einverstanden, sagte ich. – Wenn du also als Ankläger vor Gericht ständest, wem, meinst du, würde die Todesstrafe zuzuerkennen sein, dem der Unrecht begangen oder der es erlitten hat? – Ich zweifle nicht, sprach ich, daß ich dem, der es erlitten, durch den Schmerz des Übeltäters Genugtuung verschaffte. – Elender also würde dir der Täter des Unrechts als der Erdulder erscheinen? – Das folgt daraus, sagte ich. Aus diesen und andern Gründen erhellt, daß Schändlichkeit nach ihrer eignen Natur elend macht, erhellt, daß zugefügtes Unrecht nicht den Empfänger, sondern den Täter elend macht. – Gleichwohl, sprach sie, verfahren die Staatsanwälte jetzt umgekehrt; denn sie suchen für die, welche etwas Schweres und Herbes erlitten haben, das Mitleid der Richter zu erwecken, während man gerechtes Mitleid mehr den Tätern schuldet, sie müßten nicht von erzürnten, sondern eher von gütigen und mitleidigen Anklägern wie Kranke zum Arzt geführt werden, um die Krankheit der Schuld durch die Strafe auszuschneiden. Unter diesem Gesichtspunkte würde die Mühwaltung ihrer Verteidiger entweder ganz verkümmern, oder wenn sie den Menschen nützen wollten, würde sie sich zur Anklage umwandeln. Die Bösen selber, wenn es ihnen möglich wäre, durch irgend ein Ritzchen die verlassene Tugend zu erblicken, und wenn sie sähen, daß sie durch die Qualen der Strafe den Schmutz der Laster ablegen könnten, um Tugend dafür einzutauschen, würden sie jene gar nicht Qualen nennen, sie würden die Hilfe der Verteidiger verschmähen und sich ganz den Anklägern und Richtern überlassen. Daher rührt es, daß bei den Weisen überhaupt gar kein Platz für den Haß übrig bleibt. Denn wer wäre ein so völliger Tor, daß er die Guten hassen möchte? Die Schlechten aber zu hassen entbehrt der Vernunft; denn wenn die Lasterhaftigkeit, wie ein körperliches Siechtum, eine Krankheit der Geister ist, und wenn wir die körperlich Kranken keineswegs des Hasses, sondern eher des Mitleids für würdig halten, so sind noch weit mehr die nicht zu verfolgen, sondern zu bedauern, deren Geister Ruchlosigkeit, die schlimmer als alles Siechtum ist, bedrückt.
