22.
Doch fast hätte ich noch etwas vergessen. Wohl aber hättest du, ihr geistlicher Vater, es nicht zugelassen; denn du hast das wunderbare Wort sorgfältig bewahrt und uns mitgeteilt. Es war ein großes Wort, das ihr selbst zur Ehre gereicht, uns aber eine Aufforderung zur Tugend und zur Sehnsucht nach einem gleichen S. 248 Tode ist. Wenn ich des Wortes gedenke, überkommen mich Schauder und Tränen. Sie lag am Sterben und in den letzten Zügen. Es umstanden sie rings Angehörige und Fremde, um ihr noch die letzten Ehren zu erweisen. Die alte Mutter beugte sich über sie. Die krampfhaft zuckende Seele verlangte fort. In die Liebe aller mischte sich der Todesschrecken; die einen wünschten von ihr noch ein Wort als Andenken zu hören, andere wollten sie noch sprechen, ohne es aber zu wagen. Still flossen in unheilbarem Schmerz die Tränen; denn man hätte es nicht für recht gehalten, diese Sterbende mit Klagen zu ehren. Es herrschte tiefes Schweigen; ihr Sterben war Gottesdienst. Sie atmete nicht, war bewegungslos und, wie es schien, unfähig zu sprechen. Da ihr Körper kein Zeichen mehr gab, glaubte man, der Tod sei eingetreten; denn man meinte, daß, weil das Lebensprinzip bereits gewichen sei, die Stimmorgane tot seien. Doch als ihr Seelenhirte, der sie wegen all der wunderbaren Vorgänge in allem genau beobachtet hatte, merkte, daß sich ihre Lippen etwas bewegten, und in einer Kühnheit, die sein Charakter und sein Mitleid gestatteten, seine Ohren ihren Lippen näherte, da spielte sich in der Stille etwas Wunderbares ab, worüber du selbst erzählen mögest! Denn deinen Worten wird jeder Glauben schenken. Sie flüsterte Psalmenworte, die sich aufs Sterben bezogen ― tatsächlich ein Beweis, mit welchem Vertrauen sie gestorben ist! Selig, wer das Leben verläßt mit den Worten: „Im Frieden werde ich ruhen und schlafen1“. Diese Worte hast du, beste der Frauen, gebetet, und sie sind dir in Erfüllung gegangen. Das Wunderbare war das Psalmenwort, es ist zugleich der Nachruf für die Hingeschiedene geworden. Herrlichen Frieden hast du erlangt, frei von Leiden; du hast außer dem gewöhnlichen Schlummer die Ruhe gefunden, welche die (von Gott) Geliebten verdienen, wie es sich für die geziemt, welche von Worten der Frömmigkeit gelebt hat und mit diesen Worten verschieden ist.
Ps. 4, 9 [hebr. Ps. 4, 9]. ↩
