1.
V. 13: „Brüder, ich bilde mir nicht ein, es ergriffen zu haben.“
V. 14: „Eines aber (tue ich): Das, was hinter mir liegt, vergessend, dagegen nach dem, was vor mir liegt, mich anstrengend1, strebe ich nach dem Ziele zu dem Kampfpreise der von oben erhaltenen Berufung Gottes in Christus Jesus.“
Nichts raubt so sehr unseren Tugendwerken Verdienst und Wert, als wenn wir des Guten, das wir getan, selbstgefällig gedenken. Das erzeugt nämlich einen doppelten Übelstand; es macht uns einmal nachlässiger, sodann führt es uns zu hochmütiger Selbstüberhebung. Beachte nun, wie Paulus aus eben diesem Grunde, weiter weiß, wie schnell unsere Natur sich zur Trägheit hinneigt, die Philipper, welche auf seine zahlreichen Lob-S. 180sprüche leicht hätten stolz werden können, zur Bescheidenheit stimmt, sowohl durch die vielen im Vorausgehenden enthaltenen Mahnungen, als insbesonders durch die vorliegende Stelle. Was sagt er hier? „Brüder, ich bilde mir nicht ein, es ergriffen zu haben.“ Wenn aber Paulus es noch nicht ergriffen hatte und hinsichtlich der Auferstehung und der zukünftigen Dinge sich nicht sicher fühlte, so konnten wohl schwerlich unbedingt darauf rechnen, deren Verdienste an die eines Paulus auch nicht im entferntesten heranreichten. Er meint: Ich glaube, daß ich noch nicht die Tugend vollständig erreicht habe; so als wenn man von einem Wettläufer spräche. Ich habe noch nicht ganz vollendet, sagt er. Wenn er aber anderswo schreibt: „Ich habe den guten Kampf gekämpft2“, und hier: „Ich bilde mir doch nicht ein, es ergriffen zu haben“, so wird, wer genau zusieht, leicht den Grund erkennen, warum er dort so und hier so spricht. Es ist nicht nötig, beständig das gleiche zu wiederholen; und daß der letztere Ausspruch aus viel früherer Zeit stammt, der erstere hingegen aus seinen letzten Lebenstagen. — Sondern ich bin einzig und allein darauf bedacht, sagt er, nach dem, was vor mir liegt, mich anzustrengen. „Eines aber (tue ich),“ heißt es: „was hinter mir liegt vergessend, dagegen nach dem, was vor mir liegt, mich anstrengend, strebe ich nach dem Ziele zu dem Kampfpreise der von oben erhaltenen Berufung Gottes in Christus Jesus.“ Das Vergessen dessen, was hinter ihm lag, war es, was ihn nach dem, was vor ihm lag, sich anstrengen ließ. Wer sich nun schon für vollkommen hält und in dem Wahne lebt, daß ihm nichts mehr zur vollendeten Tugendhaftigkeit fehle, wird auch zu laufen aufhören, als habe er bereits alles erreicht; wer dagegen vom Ziele noch weit entfernt zu sein glaubt, der wird nie aufhören zu laufen. Diesen Glauben nun müssen wir immerfort hegen, sollten wir auch schon unzählig viel Gutes vollbracht haben. Denn wenn ein Paulus nach tausendfacher Todesnot, nach endlosen Gefahren so von sich dachte, so haben wir noch weit mehr Ursache dazu. — Ich habe den Mut nicht sinken lassen, S. 181 sagt er, oder die Hoffnung aufgegeben, weil es mir nach so langem Laufe nicht ganz gelungen ist, sondern noch immer laufe ich, noch immer kämpfe ich; darauf allein richtet sich mein Augenmerk, wie ich vorwärts kommen möge. So müssen auch wir es machen: wir müssen unsere bisherigen Leistungen vergessen und hinter uns lassen. Denn auch der Wettläufer zählt nicht, wieviele Runden3 er bereits zurückgelegt hat, sondern wie viele er noch zurücklegen muß. Auch wir wollen nicht immer nachrechnen, wieviel wir in der Tugend schon geleistet haben, sondern wieviel uns noch zu leisten übrig bleibt. Denn was helfen uns die bisherigen Leistungen, wenn der noch fehlende Rest nicht hinzukommt? — Der Apostel sagt nicht: Ich zähle nicht nach, sondern: Ich denke gar nicht daran. Denn nur dann werden wir alle Kräfte aufbieten, wenn wir unseren ganzen Eifer zur Erreichung dessen, was uns noch abgeht, zusammennehmen, wenn wir die schon errungenen Erfolge der Vergessenheit anheimgeben. — Uns „anstrengend“, sagt er, ehe (das Ziel) erreicht ist, müssen wir es zu erlangen trachten. Denn wer sich anstrengt4, der strebt sozusagen mit dem ganzen übrigen Körper den Füßen, so schnell sie auch laufen, voranzueilen: er beugt sich vorwärts und streckt die Hände aus, um den Lauf möglichst zu beschleunigen. Dazu treibt ihn der Ernst seines Strebens, die Hitze seines Eifers. So muß der Läufer laufen, mit solcher Unverdrossenheit, mit solcher Freudigkeit, ohne die Lust zu verlieren. — So groß aber der Abstand zwischen einem solchen Läufer und einem auf dem Rücken Liegenden ist, so groß ist der Unterschied zwischen Paulus und uns. Tag für Tag machte er sich mit dem Tode vertrauter, Tag für Tag gewann er größeren Ruhm. Keine Gelegen-S. 182heit, keinen Zeitpunkt ließ er vorübergehen, ohne in der Laufbahn vorwärts zu kommen. Er wollte den Siegespreis nicht empfangen, er wollte ihn mit Gewalt an sich reißen; denn nur so kann man ihn erhalten. — Im Himmel oben steht er, der den Siegespreis erteilt; im Himmel oben liegt der Siegespreis selbst.
Hier schließt in der Vulgata V. 13 ab. ↩
2 Tim, 4, 7. ↩
δίαυλος = eigentlich Doppellauf. Der hl. Chrysostomus hat wie der hl. Paulus den sog. δόλιχος (Langlauf, Dauerlauf) im Auge, in welchem ohne abzusetzen die Laufbahn so oft zu durchmessen war, daß der zurückgelegte Weg die vorgeschriebene Länge erreichte. Da beim vollständigen Umlaufe der Läufer die Bahn zweimal zu durchmessen hatte, indem er, um das Ziel einen Bogen beschreibend zum Ablaufstande ohne anzuhalten zurückkehrte, so hieß ein solcher Umlauf δίαυλος. ↩
ἐπεκτεινω eigentlich: sich ausstrecken. ↩
