1.
V. 7: „Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden gehalten.“
V. 8: „Ja, und ich halte auch alles für Schaden wegen der alles übertreffenden Erkenntnis Jesu Christi, meines Herrn, um dessentwillen ich auf alles verzichtet habe und es für Unrat achte, damit ich Christus gewinne,“'
S. 167 V. 9: „und in ihm erfunden werde nicht mit meiner Gerechtigkeit, die aus dem Gesetze ist, sondern mit jener durch den Glauben an Jesus Christus, mit der Gerechtigkeit aus Gott ...“
Im Kampfe gegen die Häretiker1 muß man mit ungeschwächter Geisteskraft angreifen, damit man genau darauf achten könne. Deshalb wollen wir auf den Schluß des letzten Vortrages zurückkommen und denselben zum Ausgangspunkt für den heutigen machen. Wie aber lautete jener? Nachdem Paulus alle Vorzüge, deren er sich als Jude von seiten der Natur wie von Seiten des freien Willens rühmen konnte, aufgezählt hatte, setzte er hinzu: „Aber was mir Gewinn war, das alles habe ich für Schaden gehalten wegen der alles übertreffenden Erkenntnis Jesu Christi, meines Herrn, um dessentwillen ich auf alles verzichtet habe und es für Unrat achte, damit ich Christus gewinne.“ — Auf diese Stelle stürzen die Häretiker los. Denn auch darin zeigt sich die Weisheit des Heiligen Geistes, daß er sie durch vermeintliche Aussicht auf Sieg bestimmt, den Kampf aufzunehmen. Wäre nämlich der Wortlaut (unserer Stelle) klar, so hätten sie es damit geradeso gemacht, wie mit den anderen Stellen: sie hätten den Text einfach gestrichen, hätten die Schrift als unecht verworfen, weil sie deren helles Licht durchaus nicht ertragen könnten. Allein wie man es bei Fischen macht, daß die Angel verborgen wird, auf daß sie darauf losschießen, und nicht offen zu Tage liegt: so auch hier. — Als „Unrat“ wird das Gesetz bezeichnet, sagen sie, als „Schaden“ wird es bezeichnet; er versichert: Ich hätte unmöglich Christus gewinnen können, wenn ich nicht auf dasselbe verzichtet hätte. — Dieses alles hat die Häretiker verleitet, diese Stelle aufzugreifen, in der Meinung, sie spreche zu ihren Gunsten. Nachdem sie aber dieselbe aufgegriffen hatten, waren sie damit wie mit einem Netze von allen Seiten umgarnt. — Denn was sagen jene Häretiker? — Sieh, das Gesetz ein Schaden, sieh, das Gesetz ein Unrat! Wie S. 168 könnt ihr da behaupten, daß es von Gott sei? — Nun, gerade das spricht für das Gesetz; und das Warum wird aus der Stelle selbst klar werden. Achten wir genau auf den Wortlaut! Paulus sagt nicht: Das Gesetz ist Schaden, sondern: „Ich habe es für Schaden gehalten.“ Wo er vom Gewinn sprach, sagte er nicht: Was ich für Gewinn gehalten habe, sondern: „was mir Gewinn war“; wo er aber vom Schaden redete, sagt er: „Ich habe es für Schaden gehalten“. Mit Recht. Denn das eine ist es von Natur aus, das andere ist es erst geworden infolge unseres Urteils. — Wie nun? Ist es also kein Schaden? höre ich fragen. Ja, es ist Schaden, aber „um Christi willen“. — Und wie ist das Gesetz Gewinn geworden? Es wurde doch wohl nicht bloß für Gewinn gehalten, sondern war es auch? Denn bedenke, was es Großes war, die in ihrem ganzen Wesen verwilderten Menschen zu wahren Menschen zu machen! Wäre kein Gesetz gewesen, so hätte es auch keine Gnade gegeben. Warum? Weil das Gesetz gleichsam die Brücke gebildet hat. Denn da es unmöglich war, aus der tiefen Niedrigkeit sich emporzuschwingen, ist das Gesetz zur Leiter geworden. Wer emporgestiegen ist, bedarf der Leiter nicht mehr; doch verachtet er sie darum nicht, sondern weiß ihr sogar Dank. Denn sie versetzte ihn in die Lage, daß er ihrer nicht mehr bedarf; und dennoch gerade dafür, daß er sie nicht mehr braucht, muß er ihr billiger Weise dankbar sein; denn (ohne sie) wäre er nicht hinaufgekommen. So verhält es sich auch mit dem Gesetze: Es hat uns zur Höhe hinaufgeführt; folglich war es ein Gewinn; aber fürder halten wir es für Schaden. Warum? Nicht weil es an sich Schaden ist, sondern weil die Gnade es weit überragt. Gleichwie nämlich der vom Hunger bedrückte Arme, solange er Silber hat, zwar dem Hungertode entgeht, wenn er aber Gold findet und nicht beides zugleich behalten darf, es für Schaden erachtet, jenes zu behalten, und dafür das Gold nimmt: ebenso verhält es sich auch hier; nicht als ob das Silber an sich ein Schaden wäre — denn das ist es nicht —, sondern weil er nicht beides zugleich nehmen kann, vielmehr notwendig das eine zurücklassen muß. Schaden bringt also nicht das Gesetz, sondern der Umstand, daß S. 169 man von Christus abstehen muß, wenn man zum Gesetze steht. Also soferne es uns von Christus entfernt, ist es Schaden; soferne es uns aber zu ihm hinführt, keineswegs. Deswegen bezeichnet es der Apostel als „Schaden um Christi willen“. Wenn es um Christi willen Schaden ist, so ist es dies nicht von Natur aus. — Warum aber läßt uns das Gesetz nicht zu Christus kommen? Ist es ja doch nach den Worten des Apostels zu diesem Zwecke gegeben worden2; ist ja doch Christus die Erfüllung des Gesetzes, Christus das Ende des Gesetzes3. Es läßt uns, wenn wir wollen; „denn das Ende des Gesetzes ist Christus“. Wer (also) dem Gesetze folgt, muß eben dieses Gesetz verlassen? Es lässt4, wenn wir darauf achten; wenn wir freilich nicht darauf achten, so läßt es nicht. — „Ja, und ich halte auch alles für Schaden.“ Warum rede ich, will er sagen, so vom Gesetze? Ist es nicht etwas Schönes um die Welt? nicht etwas Schönes um das gegenwärtige Leben? Aber wenn es mich von Christus entfernt, so halte ich das alles für Schaden. Warum? — „Wegen der alles übertreffenden Erkenntnis Jesu Christi, meines Herrn.“ Denn am hellen Tage beim Lampenlicht sitzen bleiben, das ist Schaden. Der Schaden entsteht also durch die Vergleichung, durch das Übertreffen. Siehst du, daß er einen Vergleich anstellt? „Wegen der alles übertreffenden“, sagt er, nicht: wegen der wesentlich verschiedenen; denn das Übertreffen bezieht sich auf Gleichartiges. Mit denselben Worten also, mit denen er die Überlegenheit der Erkenntnis (Christi) im Vergleich (zu jeder andern) ausspricht, deutet er auch die Zugehörigkeit derselben an. — „Um dessentwillen ich auf alles verzichtet habe und es für Unrat achte, damit ich Christus gewinne.“ — „Unrat“. Noch ist es nicht ausgemacht, ob er (wirklich) vom Gesetze spricht. Wahrscheinlich nämlich redet er von weltlichen Dingen. Denn nach den Worten: „Was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden gehalten“, fährt er fort: „Ja, und ich halte auch alles für Schaden“. Wenn S. 170 er auch sagt „alles“, so meint er doch wohl das Gegenwärtige. Willst du aber auch das Gesetz darunter verstanden wissen, so ist es dadurch doch nicht beschimpft. Denn der Ausdruck σκύβαλον5 bezeichnet (auch) Getreideabfälle, und zwar näherhin das, was den Getreidekörnern als fester Halt und schützende Hülle gedient hat, nämlich die Spreu. So wie nun dieser „Unrat“ vordem nützlich war, so daß wir ihn zugleich mit dem Getreide einsammelten — wäre dieser Unrat nicht gewesen, so hätte es kein Getreide gegeben —: gerade so verhält es sich auch mit dem Gesetze.
