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Gar vielfach sagt man auch dem Adler nach, daß er seine Jungen verstoße, freilich nicht beide, sondern nur eines davon. Einige nun erklärten sich das aus dessen Unlust, doppelte Portionen an Nahrung zu beschaffen. Doch mir dünkt diese schwerlich glaubhaft, zumal da Moses diesem Vogel ein so herrliches Zeugnis über die Liebe zu seinen Jungen ausstellte, daß er den Ausspruch tat; „Wie der Adler sein Nest beschützt und voll Zuversicht über seinen Jungen schwebt, so breitete [der Herr] seine Fittiche und nahm sie zu sich und lud sie auf seine Schultern. Der Herr allein war Führer ihnen“. Wie soll der Adler [über die Jungen] seine Fittiche breiten, wenn er eines tötet? Darum erblicke ich den Grund seines grausamen Vorgehens nicht im Knausern mit der Nahrung, sondern in einer Probe, die er anstellt. Er soll nämlich stets seine Brut prüfen, daß nicht die Minderwertigkeit eines entarteten Sprößlings gleichsam die hehre Königswürde, die sein Geschlecht im ganzen Vogelreiche bekleidet, entstellt. Wie nun versichert wird, hält er seine Jungen gegen die Sonnenstrahlen und läßt sie an den Krallen mitten in der Luft schweben. Und wenn nun eines vom Sonnenlicht getroffen, des Auges scharfen Blick ohne zu zucken, ohne an Sehkraft einzubüßen herhält, wird es für bewährt befunden; denn der unverwandte, unversehrte Blick bewies die Unverfälschtheit seiner Natur. Wenn eines hingegen vom Sonnenstrahl geblendet, das Auge abwendet, wird es als unebenbürtig und eines so erhabenen Vaters unwürdig verstoßen und, nachdem es der Anerkennung nicht wert war, auch der Aufzucht nicht S. 215 wert erachtet. Nicht also aus natürlicher Hartherzigkeit, sondern kraft unbestechlichen Urteils entscheidet er wider ihn: er verstößt nicht seinesgleichen, sondern weist einen fremdartigen ab.
