Cap. XVI.
Damit wir aber nicht ferner gefährlichem Falle ausgesetzt seien, so wird das ewige Wort eingeladen, herniederzusteigen in jenen Nußgarten,1 in dem die gnadenreichen Früchte priesterlichen Lebens reifen, das so harte Prüfungen auflegt, das so voll von anstrengender Arbeit, aber auch so fruchtbar an heiliger Tugend ist. So ergrünte ja auch der Stab Aarons nicht in natürlicher Weise, sondern lediglich durch göttliche Kraft. Ja, der Herr möge herniedersteigen in seinen Garten, um die Früchte des Glaubens dort zu ernten und an dem Dufte der Blüthen sich zu laben, nach den Worten:2 „Ich habe gepflückt meine Myrrhe mit meinen Gewürzen, gegessen mein Brod mit meinem Honig.“ Aus den Blüthen verschiedener Tugend sammelt die Kirche, S. 181 der Biene vergleichlich, um geistigen Honig, gleichsam zur Speise für den Herrn, zu bereiten.
Alles also haben wir in Christo. Jede Seele soll zu ihm hingehen, gleichviel ob sie an Fleischessünden todtkrank ist, wie mit Nägeln festgeheftet an sündhafte Begierden, oder ob sie, trotz ihrer Bemühungen in Gebet und Betrachtung, noch in Unvollkommenheit wanket, oder ob sie endlich in einzelnen Tugenden bereits die Höhe der Vollkommenheit erstiegen hat: jede Seele ist in der mächtigen Hand des Herrn, und Christus ist für uns Alles. Willst du, daß deine Wunde heile: er ist der Arzt; glühst du vor Fieberhitze: er ist erfrischende Quelle; sinkst du zusammen unter der Ungerechtigkeit deiner Werke: er ist die ewige Gerechtigkeit; bedarfst du der Hilfe: er ist die Allmacht; fürchtest du den Tod: er ist das Leben; verlangst du zum Himmel: er ist der Weg; willst du die Finsterniß fliehen: er ist das Licht; suchst du Speise: er ist das Brod des Lebens. „Kostet also und sehet, wie süß der Herr ist; selig der Mann, der auf ihn hoffet.“3
Auf ihn hoffte jenes Weib, das am Blutflusse litt und alsbald geheilt wurde, weil sie vertrauend zu ihm hintrat. So tritt auch du hin, meine Tochter, berühre vom Glauben beseelt den Saum seines Gewandes. Alsbald wird der überwallende Strom deiner sinnlichen Begierden erstarren, wenn du nur gläubig voll Verehrung das leiseste Wort aus seinem göttlichen Munde annimmst, wenn du zitternd niedersinkest zu den Füßen des Herrn. O Glaube, kostbarer als alle Schätze! stärker als alle Macht der Welt! heilbringender, als alle Wissenschaft des Arztes! Kaum trat das Weib zu ihm hin, so fühlte sie schon die Kraft und erlangte Heilung. So trifft der Strahl, wenn du dein Auge dem Lichte zuwendest, dich erleuchtend, noch ehe du dessen inne wirst, und die Wirkung ist da, ehe du sie fühlst. Altes, unheilbares Leiden, das aller Kunst der Aerzte spottet, das nicht weicht trotz des aufgewendeten ganzen Vermögens, wird geheilt bei S. 182 der bloßen Berührung des Gewandes. Sowie jenes Weib, sollst du, o Jungfrau, in Ehrfurcht dem Herrn dich nahen, in festem Glauben ihn verehren.
Wie groß ist nun die Begnadigung, wenn diejenige, welche sich scheut, vor die Menschen hinzutreten, sich nicht schämt, ihren Fehler zu bekennen! Verheimliche deine Fehltritte nicht, bekenne nur muthig, was der Herr doch schon weiß; schäme dich nicht, dessen auch die Propheten sich nicht schämten. „Heile mich, o Herr! und ich werde geheilt werden!“ spricht Jeremias.4 So sprach auch jenes Weib, das den Saum des Gewandes Christi berührte: „Heile mich, Herr! und ich werde geheilt werden; rette mich, und ich werde gerettet sein; denn du, o Herr, bist mein Ruhm und mein Preis, und genesen wird nur, den du heilest.“
Will nun Jemand dir einwenden, weil auch die Gläubigen gar manche Versuchung erdulden müssen: „Wo ist des Herrn Wort? Es komme doch!“ — so vergiß nicht, daß auch zu dem Herrn einst gesagt wurde: „Er möge herabsteigen vom Kreuze, so wollen wir ihm glauben; er hat auf den Herrn vertraut, der rette ihn jetzt, wenn er ein Wohlgefallen an ihm hat.“ Wenn man in solcher Weise höhnend zu dir spricht, als ruhe dein Vertrauen auf thörichter Fabel, so antworte nimmer. Wollte doch auch Christus die Spötter nicht eines einzigen Wortes würdigen! Ihn allein sollst du fragen, nur ihm antworten. Redest du zu jenen, sie glauben dir nicht; fragst du sie, so lassen sie dich ohne Antwort. So sprich denn mit dem Propheten zu deinem Heilande: „Ich war ohne Beschwerden, da ich dir folgte, und Menschentage habe ich nicht begehrt.“5
S. 183 So sprach auch jenes Weib, und sofort war sie geheilt. Obgleich matt und krank, da sie so lange den Herrn gesucht hatte, sprach sie doch: „Ich hatte keine Beschwerden, da ich dir folgte.“ So ist es in der That: wer Christus folgt, der fühlt keine Beschwerden, weil er die Mühseligen gerade zu sich ruft, um sie zu erquicken. So folgen wir ihm denn, von dem mit Recht der Prophet sagt:6 „Die auf den Herrn hoffen, erneuern ihre Kraft, befiedern sich wie Adler, laufen und werden nicht müde, gehen und werden nicht matt.“
So scheuen wir denn nicht das Bekenntniß. Mit Jeremias können wir sagen: „Du weißt es, o Herr! was herausging aus meinen Lippen, lag stets offen vor dir.“ Darum scheue ich mich nicht, die eigenen Sünden zu bekennen, und zu bitten: „Laß zu Schanden werden, die mich verfolgen, aber mich laß nicht zu Schanden werden!“
Petrus scheute sich nicht zu rufen: „Weiche von mir, Herr! denn ich bin ein sündiger Mensch.“ Der weise, hehre Mann, in dem die Kraft der Kirche ruht und das höchste Amt der Leitung: er erkennt, daß es für ihn nichts Nützlicheres gebe, als sich über den Erfolg des unternommenen Werkes nicht zu überheben. Darum sagt er: „Weiche von mir, Herr!“ Er bittet nicht in der Absicht, verlassen zu werden, sondern lediglich, um sich vor Hochmuth zu bewahren.
Auch Paulus redet von dem Stachel des Fleisches, der bewirke, daß er selbst sich nicht überhebe. Gefährlich, einschmeichelnd muß dieser Stolz sein, da selbst Paulus ihn fürchtet. Und doch ist der nicht leicht zum Falle zu bringen, der fürchtet, sich um der empfangenen Offenbarungen willen überheben zu können. Aber einem tapferen Kämpfer gleich S. 184 freut er sich, unter den Gefahren, welche die Leiblichkeit ihm bereitet, die Seele zu bewahren und zu retten.
Hoh. Lied 6, 10. ↩
Hoh. Lied 5, 1. ↩
Ps. 33, 9 [Hebr. Ps. 34, 9]. ↩
Jerem. 17, 16 ff. Der Prophet meint mit dem Uebel, von dem er geheilt werden will, die Nichterfüllung der im Namen Jehovahs gegebenen Weissagung. Die Beziehung ist hier also nicht besonders zutreffend. ↩
Ambrosius übersetzt den Text der LXX: Ἐγὼ δὲ οὐκ ἐκοπίασα κατακολουθῶν ὀπίσω σου [egō de ouk ekopiasa katakolouthōn opisō sou] (ganz wie das neue Testament κοπιάω [kopiaō] für „sich abmühen“ gebraucht): Ego non laboravi, sequens post te. Damit ist freilich der Sinn des Propheten nicht getroffen, da dieser vielmehr sagen will, daß er nie seinem eigenen Willen nachgegeben habe, sondern stets dem Herrn gefolgt sei. „Ich strebe nicht hinweg, mich nicht zu halten hinter dir“ hat der hebräische Text. ↩
Isai. 40, 31. ↩
