Cap. XVIII.
S. 186 Man soll übrigens nicht glauben, daß wir alten Dichtern und Philosophen folgen, wenn wir eben von Flügeln der Seele sprachen, wenn wir das Bild eines Wagens mit seinen Rossen auf sie anwenden. Wir haben vielmehr lediglich an die heiligen Schriftsteller uns gehalten. So schreibt der Prophet Ezechiel:1 „Die Hand des Herrn kam über mich; und ich schaute, und siehe, es kam ein ungestümer Wind von Mitternacht her, eine große Wolke, Feuer darin, Glanz um sie her und mitten in dem Feuer war es wie lichthelle. Und darin war die Gestalt von vier lebenden Wesen. — Ihre Gesichter aber waren so gestaltet: ein Menschengesicht, dann ein Löwengesicht zur Rechten bei allen Vieren, dann ein Rindgesicht zur Linken bei allen Vieren und überdieß ein Adlergesicht bei allen Vieren — ihre Flügel aber waren ausgespannt.“
Hier haben wir jene Darstellung der Seele kennen gelernt. Die vier lebenden Wesen deuten auf die vier Seelenthätigkeiten: in dem Menschengesichte wird das Vernünftige, in dem Löwen das Muthige, in dem Rinde das Begehrliche, in dem Adler das Erkennende ausgedrückt. So sprechen auch die griechischen Philosophen bei der Seele von einem: λογιστικόν, θυμηθικόν, ἐπιθυμητικόν, διορατικόν [logistikon, thymēthikon, epithymētikon, dioratikon], die lateinischen aber von: prudentia, fortitudo, temperantia, iustitia.2 Die Klugheit eignet der S. 187 menschlichen Vernunft; der Starkmuth ruht auf einer gewissen Kraft, die gewaltigen Muth und Verachtung des Todes lehrt; die Mäßigkeit bindet durch heilige Liebe und durch Betrachtung der himmlischen Geheimnisse die Gelüste des Fleisches; die Gerechtigkeit aber, mehr für Andere, als für sich selbst besorgt, — mehr bedacht auf das öffentliche Wohl, als auf eigenen Nutzen, übersieht und durchforscht Alles von erhabenem Standpunkte aus. Deßhalb wird auch die Seele, sofern sie die Tugend der Gerechtigkeit anstrebt, mit einem Adler verglichen, weil sie dann alles rein Irdische unbeachtet läßt und nur in Erforschung der himmlischen Geheimnisse versenkt die Glorie der Auferstehung für sich gewinnt. Deßhalb ist auch zu ihr gerade gesagt: „Dem Adler gleich wird deine Jugend erneuert.“3
Es ist darnach auch dem königlichen Sänger ganz entsprechend, von Flügeln der Seele zu reden. An einem anderen Orte4 sagt er: „Unsere Seele ist entronnen, wie ein Vogel dem Stricke der Jäger,“ und wiederum:5 „Ich vertraue auf den Herrn; wie saget ihr zu meiner Seele: Fliehe, wie ein Sperling auf den Berg?“ Die Seele hat S. 188 also ihre Flügel, mit denen sie sich frei erheben kann von der Erde, deren Kräftigung in der fortgesetzten Uebung guter Werke besteht. So soll denn die Seele auch die Gnade des Herrn in sich anregen und dessen, was hinter uns liegt, vergessend dem zustreben, was vor uns liegt, was in der Ewigkeit uns bestimmt ist. Sie soll ferne sich halten von den Ehren des öffentlichen Lebens, ferne von der sengenden Gluth weltlicher Leidenschaft; es möchte ihr sonst gehen, wie jenem mythischen Ikarus, dessen künstliche Flügel unter den Strahlen der Sonne sich lösten, so daß er elend niederfiel. Es mag gestattet sein, in ernster Rede dieser Fabel zu gedenken; in ihrer Tiefe liegt ja ohnehin die Lehre verborgen, daß der Seelenflug durch die Welt nur für die gereifte Tugend ohne Gefahr ist, daß aber die unerfahrene, leichtsinnige Jugend gar bald den Gelüsten der Welt anheimfällt, und dann, wenn das Band der Wahrheit, das die Seele mit Gott verknüpft, gelockert ist, in unsäglichem Elende zur Erde niedersinkt.
Nicht leicht ist dieser Aufschwung für Alle; gar schwierig ist der Lebenslauf, wenn die Seelenfähigkeiten mit einander im Kampfe liegen. Herrscht aber hier volle Übereinstimmung, so wird der Prophet auch in uns jenes Rad erblicken, das er in seinem Gesichte schaute „auf dem Boden neben den Wesen, und das Rad war wie vierfach.“6 Das Rad sinnbildet unser Leibesleben, wenn dieses getragen ist von dem Tugendleben der Seele und den Vorschriften des Evangeliums gemäß verläuft. So wie im Gesichte Ezechiels das „Rad im Rade“ erschien, so ist unser Leben im Leben. Steht ja das Leben der Heiligen für Vergangenheit und Zukunft nicht im Widerspruch, und außerdem wird im Leibesleben das ewige Leben begonnen.
Ist diese Übereinstimmung vorhanden, dann wird auch zu uns die Stimme Gottes erschallen und in unserem Herzen wird wie auf einer Throngestalt sich niederlassen eine S. 189 Gestalt, anzusehen wie ein Mensch; das ist das Wort, das „Fleisch geworden“. Dieser Gottmensch ist der Beherrscher unserer Seelenthätigkeiten, der Lenker unserer Sitten. Je nach dem Maaße unserer Verdienste besteigt er für uns den Berg oder das Schiff. Das ist aber jenes Schiff, das die Apostel führt, in dem Petrus seinen Fischfang hält. Kein gemeines Schiff ist das, welches auf’s hohe Meer geführt, das heißt: von den Ungläubigen getrennt wird. Warum aber ist es gerade ein Schiff, das der Herr besteigt, von dem aus die Volksschaaren belehrt werden? Weil die Kirche jenes Schiff ist, das unter wehender Kreuzesflagge von dem Hauche des göttlichen Geistes getrieben hinsegelt durch die stürmende Welt.
Von hier aus hält Petrus seinen Fischzug. Bald heißt ihn der Herr das Netz, dann wieder die Angel auswerfen. Ausgeworfen wird die Angel in die Welt, um vor Allen aus ihr, wie aus des Meeres Tiefe, den ersten Märtyrer Stephanus zu heben, der in sich den Schatz birgt, der Christus muß gezollt werden: der Märtyrer Christi ist ja der Schatz der Kirche. Jener nun, der von der Erde zuerst zum Himmel heranstieg, war als Diacon von Petrus gewonnen, wie einst der Fisch, den er an der Angel aus dem Meere hob: so ward auch Stephanus unter Strömen Blutes zum Himmel emporgetragen. In seinem Munde ruhete der Schatz, da er Christus in feierlicher Rede bekannte. — Welcher Schatz ruht in uns, wenn nicht das „Wort Gottes?“ Gottes Netz und Angel werden ausgeworfen. Das Netz holt Schaaren des Volkes aus der Tiefe; die Angel bringt einzelne Auserwählte. Ach, daß es mir vergönnt wäre, jene heilige Angel in meinem Munde zu fühlen, die zu voller Gluth mein Herz entzündete, und mit seliger Wunde mir ewiges Heil gewänne!
Ezech. 1, 3 ff. ↩
Diese Auffassung der platonischen Seelenlehre und ihre Verbindung mit dem Gesichte des Propheten Ezechiel ist kaum zu rechtfertigen. Plato nimmt eine Dreizahl von Seelen im Menschen an oder theilt die Seele in drei von einander verschiedenen Sphären. Die Begierdeseele (τὸ ἐπιθυμητικόν) [to epithymētikon] und die ihr übergeordnete Muthseele (θυμοειδές [thymoeides] — irascibile) bedingen das sinnliche Leben, während die Vernunftseele (λογιστικόν) [logistikon] das Göttliche im Menschen ausmacht. Die vierte Sphäre, (τὸ διορατικόν) [to dioratikon], wie Ambrosius sie nennt, wird wohl dem dritten Vermögen des Aristoteles, dem αἰσθητικόν [aisthētikon], entsprechen, vermöge dessen wir die sinnlich wahrnehmbaren Objekte zur vorstellenden Erkenntniß bringen. In der Uebertragung auf die Ethik gehört dann die Weisheit (σοφία [sophia] — prudentia) der vernünftigen Seele; der Starkmuth (ἀνδρία [andria] — fortitudo) ist die Tugend des θυμός [thymos] und bethätigt sich in dem muthigen Anstreben des Guten; die Mäßigkeit (σωφροσύνη [sōphrosynē] — temperantia) fällt der begehrlichen Seele, der ἐπιθυμία [epithymia] zu und äußert sich dadurch, daß sie die Begierden zügelt; die Gerechtigkeit (δικαιοσύνη [dikaiosynē] — iustitia) gehört den drei Theilen der Seele zugleich an; sie ist das Band und die Einheit der übrigen drei Tugenden, die eigentliche Ordnerin der Seele. — Die näheren Beziehungen zwischen den Seelenkräften und den Cardinaltugenden Plato’s einerseits und den vier Gestalten der Vision Ezechiels andererseits aufzufinden, muß dem Scharfsinne des geneigten Lesers überlassen bleiben. ↩
Ps. 102, 5 [Hebr. Ps. 103, 5]. ↩
Ps. 123, 7 [Hebr. Ps. 124, 7]. ↩
Ps. 10, 2 [Hebr. Ps. 11, 1]. ↩
Ezech. 1, 15. ↩
