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Wir müssen also Geliebteste, voll Eifer darnach streben, daß auch dieses Volk, das dem geistigen Adel seiner Väter untreu geworden ist, wiederum einen Zweig seines Stammbaums bildet. So verlangt es die wahre Liebe, die wir gemäß dem Gebete des Herrn selbst unseren Feinden schulden. Eine solch wohlwollende Gesinnung kommt uns vor Gott gar sehr zustatten. Denn nur deshalb hat er das Verschulden der Juden für uns zum Anlaß seiner Barmherzigkeit gemacht, damit diese durch unseren Glauben wieder dazu gebracht würden, im Wetteifer mit uns das ewige Heil zu erlangen1 . Das Leben des Frommen muß nicht nur für ihn allein, sondern auch für seine Mitmenschen nutzbringend werden. Von diesen soll man durch sein Beispiel erreichen, was man durch Worte nicht zu erzielen vermag. Machen wir uns also, Geliebteste, bei dem Gedanken an die unbeschreibliche Größe der uns von Gott verliehenen Gaben zum Mitwirkenden seiner Gnade, die in uns tätig ist! Wird doch das Himmelreich nicht den Schlafenden2 zuteil, fällt doch die ewige Glückseligkeit nicht denen zu, die in Trägheit und Müßiggang erlahmt sind. Nein, weil wir nach den Worten des Apostels "mit ihm verherrlicht werden, wenn wir mit ihm leiden"3 , so S. 172müssen wir jenen Weg zurücklegen, der, wie der Herr bezeugt, er selber ist4 . Ohne daß irgendwelche verdienstvolle Werke für uns sprachen, sorgte Christus für uns durch seine geheimnisvolle Menschwerdung und durch sein Beispiel. Durch jene wollte er die zur Kindschaft Gottes Berufenen dem Heile entgegenführen, durch dieses sie zur Ertragung der auferlegten Mühseligkeiten anspornen. Diese Mühseligkeiten sind aber, Geliebteste, für fromme Kinder und gute Knechte so wenig beschwerlich oder drückend, daß sie ihnen sogar süß und leicht erscheinen. So sagt der Herr: "Kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, und ich will euch erquicken! Nehmet mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen! So werdet ihr Ruhe finden für euere Seelen; denn mein Joch ist süß und meine Bürde leicht5 . Nichts ist also, Geliebteste, für den Unterwürfigen unüberwindlich, nichts für den Sanftmütigen unerträglich. Mühelos können alle Vorschriften erfüllt werden, da die Gnade im voraus ihre Hilfe dazu gibt und Gehorsam die Ausführung eines Befehles leichter macht. Tagtäglich predigt man vor unseren Ohren die Gebote Gottes, und allen ist nachweisbar bekannt, woran die göttliche Gerechtigkeit ihr Wohlgefallen findet. Weil aber jener Urteilsspruch, "durch den ein jeder, je nachdem er Gutes oder Böses getan hat, dementsprechenden Lohn empfängt"6 , zufolge der Langmut und Güte des künftigen Richters hinausgeschoben wird, so trösten sich die Glaubenslosen mit der Hoffnung, daß ihre Bosheit unbestraft bleibt. Nach ihrer Meinung kommt die Beschaffenheit des menschlichen Handelns überhaupt nicht vor den Richterstuhl der göttlichen Vorsehung. Werden vielleicht die Übeltäter nicht zumeist in augenscheinlichster Weise von der Strafe ereilt? Zeigt uns denn nicht der Himmel gar oft seine schrecklichen Drohungen? Dadurch soll offenbar der Gläubige ermutigt und der Glaubenslose erschüttert werden.
