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Geliebteste! Wir stehen jetzt in der von uns ersehnten und von der ganzen Welt herbeigewünschten Festzeit des Leidens Christi, die es uns nicht gestattet, inmitten der Wonnen geistiger Freuden zu schweigen; denn wenn es auch schwer ist, über das gleiche Ereignis öfters in würdiger und angemessener Weise zu sprechen, so darf doch der Priester bei einem so großen Geheimnisse der göttlichen Barmherzigkeit seine Pflicht, den S. 324Gläubigen zu predigen, nicht unerfüllt lassen. Bietet ja der Gegenstand gerade deshalb, weil er unsagbar groß ist, immer wieder Anlaß, darüber zu reden, und kann es doch dort nicht an Stoff fehlen, wo alles, was man vorbringt, die Sache nie erschöpft. Mag darum auch der schwache Mensch ohnmächtig sein gegenüber der Herrlichkeit Gottes, mag er auch stets fühlen, daß seine Kräfte zu gering sind, um die Werke seiner Barmherzigkeit genügend zu schildern, mag auch unser Verstand versagen, unsere Denkkraft stocken und unsere Sprasche nicht ausreichen, so hat dies doch sein Gutes. Soll uns ja unsere Anschauung von der Majestät des Herrn selbst da, wo sie richtig ist, immer noch zu unvollkommen erscheinen. So sagt der Prophet: „Suchet den Herrn und seid stark, suchet sein Antlitz allezeit!“1 . Niemand möge sich also damit brüsten, daß er alles gefunden habe, wonach er strebte! Wäre doch für den jeder Fortschritt vorbei, der es aufgäbe, weiterzueilen. Was aber erfreut und übersteigt unter allen Werken Gottes, die sich der staunende Mensch zu ergünden abmüht, so sehr unsere Fassungskraft, als das Leiden des Erlösers? Sooft wir, soweit dies in unseren Kräften steht, über seine Allgewalt nachdenken, die er mit dem Vater teilt, der mit ihm ein und desselben Wesens ist, immer erscheint uns die Demut Gottes wunderbarer als seine Macht. Schwerer begreift man die Selbstentäußerung der göttlichen Herrlichkeit als die Erhöhung der Knechtsgestalt zur Gottheit. Mag aber auch der Schöpfer etwas anderes sein als das Geschöpf, und die unverletzliche Natur Gottes etwas anderes als die leidensfähige Natur des Menschen, für unsere Erkenntnis ist es von großer Wichtigkeit, daß sich das, was jeder Wesenheit eigen ist, zu einer einzigen Person vereinigt. Darum hat auch in allen Fällen, in denen sich2 Schwäche oder Kraft offenbart, der an der Erniedrigung seinen Anteil, dem anderseits auch wieder Herrlichkeit eigen ist.
