1.
Geliebteste! Unsere letzte Predigt, deren versprochenen zweiten Teil wir euch heute geben wollen, hatten wir mit einer Besprechung der Worte geschlossen, die der Herr vom Kreuze herab an seinen Vater richtete. Mit dieser Erörterung beabsichtigten wir zu verhüten, daß unbefangene und unachtsame Zuhörer jenen Ausspruch: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“1 so deuten, als ob nach Anheftung Jesu an das Kreuzessholz die Macht seines göttlichen Vaters von ihm gewichen wäre. War doch die göttliche und menschliche Natur des Erlösers zu einer solch engen Einheit miteinander verbunden, daß diese weder durch die Kreuzigung zerrissen, noch durch den Tod aufgelöst werden konnte. Beide Wesenheiten behielten ihre Eigenart. Die Gottheit verließ nicht den leidenden Leib, und der Leib übertrug nichts von seiner Leidensfähigkeit auf die Gottheit; denn die göttliche Natur, die in dem wohnte, der die Schmerzen erduldete, blieb vom Schmerze unberührt. So ist also der Person des Gottmenschen gemäß der ein Geschöpf wie alle anderen Wesen, der zugleich der Schöpfer alles Geschaffenen ist2 . Ein und derselbe ist es, der sich von den S. 360Händen der Gottlosen ergreifen läßt und doch durch nichts gefaßt werden kann. Ein und derselbe ist es, der von den Nägeln durchbohrt wird und doch unverwundbar bleibt. Ein und derselbe endlich war es, der den Tod auf sich nahm und doch nicht seine Ewigkeit verlor. Durch unbestreitbare Beweise sollte dargetan werden, daß in Christus wahre Niedrigkeit und wahre Hoheit wohnte. Zu diesem Zwecke verband sich die göttliche Kraft in der Weise mit der Schwäche des Menschen, daß sich Gott all das Unsrige zu eigen machte und umgekehrt all das Seinige mit uns teilte. Der Sohn Gottes war nicht vom Vater geschieden und der Vater nicht vom Sohne. Konnte es doch bei der unveränderlichen Gottheit und unteilbaren Dreieinigkeit keine Trennung geben. Mag es also auch die besondere Aufgabe des eingeborenen Sohnes Gottes gewesen sein, Mensch zu werden, so blieb darum der Vater doch ebenso unzertrennlich vom Sohnes, wie es das Fleisch vom Worte war.
