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Geliebteste! Unsere apostolischen Lehrer wußten gar wohl, daß unser Herr Jesus Christus nicht deswegen in die Welt gekommen ist, um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu vollenden1 . Daher haben sie auch unter den Geboten des Alten Testamentes eine solche Auswahl getroffen, daß sie manche, die für die Lehre des Evangeliums segensreich wären, unverändert herübernahmen. So wurde also ein ehemals jüdischer Brauch zu einer christlichen Vorschrift. Obgleich die mannigfachen Opfer, die verschiedenen Reinigungen und die Ruhe der Sabbatfeier zugleich mit der Beschneidung des Fleisches aufgehört haben, so besitzen doch auch wir gar viele Sittengebote, die gerade aus ihren Schriften stammen. So heißt es2 : „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen3 und deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst!“4 . Wenn nun Christus, unser Herr,5 spricht6 , so ersehen wir daraus,„daß in diesen beiden Geboten das ganze Gesetz und die Propheten enthalten sind“7 . Es besteht demnach zwischen beiden Testamenten hinsichtlich dieser Vorschrift der zweifachen Liebe eine so enge Übereinstimmung, daß weder unter dem „Gesetze“ noch unter der „Gnade“ jemand ohne diese beiden Tugenden Rechtfertigung fand. Das gleiche unerschütterliche S. 471Ansehen genießen bei uns auch jene Teile der alten Vorschriften, welche die Grundlage für manche unserer Gebote und Verbote bilden. Man darf nun nicht etwa glauben, daß die evangelische Vervollkommnung deswegen mit dem Gesetze im Widerspruch steht, weil hier das Streben nach Tugenden zu „freiwilligen höheren Leistungen“ angefeuert wird und die Sündenstrafen durch das Heilmittel der „Buße“ nachgelassen werden. Sagt doch der Herr: „Wenn euere Gerechtigkeit nicht viel größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen“8 . Wie könnte sich aber unsere Gerechtigkeit auszeichnen, „wenn nicht die Barmherzigkeit das Gericht überwiegt?“9 . Was ist so geziemend und billig, als daß der nach Gottes Ebenbild geschaffene Mensch seinen Schöpfer zum Vorbild nimmt, der die Gläubigen durch Vergebung der Sünden entsühnt und heiligt, so daß die Strenge der Vergeltung und jede Strafe aufgehoben ist, der Schuldige wieder zu den Unschuldigen zählt, und das Ende der Sünde zum Beginn der Tugend wird!
