I. Kapitel: Unerfahrene sollen es nicht wagen, das Lehramt zu übernehmen
Bei keiner Kunst maßt man sich an, sie zu lehren, bevor man sie gewissenhaft erlernt hat. Wie groß ist demnach der Leichtsinn, wenn Unerfahrene das Lehramt übernehmen, denn die Kunst aller Künste ist die Seelenleitung. Wer wüßte nicht, daß die Seelenwunden tiefer liegen als die Wunden im Innern des menschlichen Körpers? Und doch scheut man sich oft nicht, obwohl man die Gesetze des geistlichen Lebens nicht kennt, sich als Seelenarzt auszugeben, während jeder sich schämen würde, als leiblicher Arzt zu gelten, wenn er die Kraft der Salben nicht kennt. Da aber jetzt durch Gottes Fügung alles, was in der Welt hoch steht, in Ehrfurcht der christlichen Religion sich zuneigt, so gibt es viele, die in der heiligen Kirche unter dem Vorwande, das Hirtenamt zu erstreben, nur nach Ehre und Ruhm haschen, als Lehrer angesehen sein möchten, über andere erhaben sein wollen und, wie es die ewige Wahrheit sagt, die ersten Begrüßungen auf der Straße, die S. 65 ersten Sitze bei Gastmählern, die ersten Plätze bei Zusammenkünften für sich in Anspruch nehmen.1 Solche vermögen um so weniger das übernommene Hirtenamt würdig zu verwalten, je mehr sie der Stolz allein zum Lehramt der Demut geführt hat. Gerade die Zunge ist es, die beim Lehramt mit Schande bedeckt wird, wenn man etwas anderes lernt und etwas anderes lehrt. Diese sind es, über die der Herr beim Propheten klagt mit den Worten: „Sie waren Könige, aber nicht durch mich; Fürsten, aber ohne mein Wissen.“2 Durch sich selbst nämlich und nicht nach dem Willen des obersten Lenkers regieren, die ohne die Stütze der Tugenden, ohne göttliche Berufung, sondern nur aus eigener Begehrlichkeit das Hirtenamt mehr an sich reißen als es erlangen. Diese läßt der Richter über das Innere im Menschen zur Höhe gelangen, will sie aber nicht kennen; denn wenn er sie auch in seiner Zulassung erträgt, so kennt er sie sicher nicht bei der Verurteilung im Gerichte. Darum sagt er zu einigen, die vor ihm erscheinen, auch wenn sie Wunder gewirkt haben: „Weichet von mir, ihr Übeltäter; ich weiß nicht, wer ihr seid!“3 Die Unerfahrenheit der Hirten wird von der ewigen Wahrheit getadelt, wenn sie durch den Propheten spricht: „Obwohl Hirten, haben sie doch keinen Verstand.“4 An einer anderen Stelle zeigt der Herr seinen Abscheu gegen sie mit den Worten: „Auch die mit dem Gesetz umgingen, kannten mich nicht.“5 Es klagt also die ewige Wahrheit, daß sie von diesen nicht erkannt werde, und beteuert, daß sie das Vorsteheramt der Unwissenden nicht kenne; denn gewiß will der Herr von denen nichts wissen, die in seinen Angelegenheiten unkundig sind, wie Paulus bezeugt: „Erkennt es aber jemand nicht, der wird auch nicht erkannt werden.“6 Häufig aber entspricht der Unwissenheit der Hirten auch das Verdienst der Untergebenen; denn obgleich jene aus S. 66 eigener Schuld das Licht der Wissenschaft nicht besitzen, so ist es doch die Folge eines strengen Gerichtes, daß durch ihre Unwissenheit auch diejenigen Schaden leiden, die sich nach ihnen richten. Darum sagt im Evangelium die ewige Wahrheit selbst: „Wenn ein Blinder einen Blinden führt, so fallen beide in die Grube.“7 Deshalb sagt auch der Prophet, nicht im Sinne eines Wunsches, sondern im Dienste der Weissagung: „Ihre Augen sollen finster werden, daß sie nicht sehen, und ihren Rücken beuge immer!“8 Die Augen nämlich sind diejenigen, welche zur höchsten Würde, gleichsam zum Antlitz erhoben, es als Amt übernommen haben, für den Weg zu sorgen; diejenigen aber, die in ihre Fußstapfen treten, heißen der Rücken. Wenn nun die Augen finster werden, beugt sich der Rücken. Wenn die Vorgesetzten das Licht der Wissenschaft verlieren, krümmt sich ganz gewiß der Rücken der Untergebenen, um die Last der Sünden zu tragen.
