II. Kapitel: Keiner soll das Hirtenamt übernehmen, der in seinem Leben das nicht in die Tat umsetzt, was er in der Betrachtung erkannt hat
Es gibt solche, die sorgfältig und emsig die Gesetze des geistlichen Lebens erforschen, aber durch ihr Leben das mit Füßen treten, was sie mit dem Verstande erfassen. Schnell lehren sie, was sie nicht durch eigene Übung, sondern nur durch Nachdenken erlernt haben; und was sie dann mit Worten predigen, das bekämpfen sie durch ihr Verhalten. So geht der Hirt den jähen Weg abwärts, und die Herde stürzt ihm nach. Darum klagt der Herr über diese bejammernswerte Wissenschaft der Hirten durch den Propheten: „Nachdem ihr das reinste Wasser getrunken, habt ihr, was übrig blieb, mit eueren S. 67 Füßen getrübt. So hatten meine Schafe zur Weide, was euere Füße zertraten; und was euere Füße trübten, das tranken sie.“1 Das ganz reine Wasser trinken die Hirten, wenn sie die Ströme der Wahrheit in richtigem Verständnis in sich aufnehmen. Aber es heißt dieses Wasser mit den Füßen trüben, wenn man die Erkenntnisse heiliger Betrachtung durch ein schlechtes Leben zunichte macht. Die Schafe trinken dann das mit den Füßen getrübte Wasser, wenn die Untergebenen nicht nach den Worten handeln, die sie hören, sondern nur dem schlimmen Beispiel folgen, das sie sehen. Nach Worten dürstend, durch Werke aber irregeführt, trinken sie gleichsam Schmutz aus verdorbenen Quellen. Deshalb steht beim Propheten geschrieben: „Ein Fallstrick meines Volkes seid ihr, schlechte Priester!“2 Darum sagt wiederum der Herr von den Priestern: „Sie sind dem Hause Israel ein Ärgernis zur Sünde geworden.“3 Denn niemand richtet in der Kirche größeren Schaden an, als wer ein sündhaftes Leben führt und dabei Namen und Stand der Heiligkeit inne hat. Niemand wagt es, ihn wegen seiner Sünde zurechtzuweisen; und zugleich wird die Sünde zum mächtigen Vorbild, wenn der Sünder wegen der Würde seines Amtes geehrt wird. Die Unwürdigen würden aber alle die Last einer so großen Schuld fliehen, wenn sie ernstlich den Ausspruch der ewigen Wahrheit bedächten: „Wer eines aus diesen Kleinen, die an mich glauben, ärgert, dem wäre es besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde.“4 Der Mühlstein bedeutet nämlich die mühevolle Last des weltlichen Lebens, und die Tiefe des Meeres bezeichnet die tiefste Verdammnis. Wer also seinem Amte gemäß als heilig erscheinen sollte, durch sein Wort und Beispiel aber die andern zugrunderichtet, dem wäre es sicher besser, daß ihn in einem weltlichen Stande irdische Ver- S. 68 fehlungen dem Tode überlieferten, als daß sein heiliges Amt ihn andern als Vorbild der Sünde vor Augen stellte; denn es würde ihn immerhin eine noch erträglichere Strafe im Jenseits treffen, wenn er allein für sich gefallen wäre.
