Kap. 31. Wenn das Gebet wirklich aus dem Herzen kommen soll, muß der Geist wach sein und sich zur tiefsten Andacht sammeln.
Wenn wir aber dastehen1 und beten, geliebteste Brüder, so müssen wir wachsam und mit ganzem Herzen auf das Gebet bedacht sein. Jeder fleischliche und weltliche Gedanke sei dann ferne, und der Geist denke an nichts als allein an das, um was er betet! Deshalb schickt auch der Priester vor dem Gebet2 einige einleitende Worte voraus und bereitet die Herzen der Brüder vor, indem er sagt: „Die Herzen in die Höhe!", damit die Gemeinde, die darauf antwortet: „Wir haben sie beim Herrn"3 , daran erinnert wird, daß sie an nichts anderes als an den Herrn denken darf. Verschließen soll sich das Herz gegen den Widersacher, Gott allein soll es offen stehen und dem Feinde Gottes in der Stunde des Gebets keinen Zutritt verstatten. Denn er schleicht sich gar häufig heran und drängt sich bei uns ein und lenkt durch schlauen Trug unser Gebet von Gott ab, so daß wir etwas anderes im Herzen haben als auf der Zunge. Und doch ist es nicht der Klang der Stimme, sondern Herz und Sinn, die den Herrn in lauterer Andacht anflehen sollen. Von welcher Lässigkeit aber zeugt es, durch ungehörige und sündige Gedanken sich ablenken und fesseln zu lassen, wenn man zum Herrn fleht, gleich als ob es etwas anderes gäbe, woran man mehr denken dürfte als an das, was man mit Gott spricht. Wie kannst du verlangen, daß Gott auf dich hört, wenn du selbst nicht auf dich hörst? Du willst, daß der Herr an dich denke, wenn du bittest, obwohl du selbst nicht an dich denkst? Das heißt alle Vorsicht S. 192 vor dem Feinde außer acht lassen, das heißt beim Gebete zu Gott die göttliche Majestät durch die Nachlässigkeit im Beten beleidigen, das heißt mit den Augen wachen und mit dem Herzen schlafen; und doch soll der Christ selbst dann, wenn er mit den Augen schläft, mit dem Herzen wachen, wie geschrieben steht im Hohen Liede, wo die Kirche von sich sagt: „Ich schlafe und mein Herz wacht"4 . Deshalb mahnt uns der Apostel mit eindringlicher Vorsicht und sagt: „Oblieget dem Gebete und wachet darin"5 , indem er offenbar lehren und zeigen will, daß nur solche die Erfüllung ihrer Wünsche von Gott erlangen können, die Gott im Gebete wachen sieht.
Auch Tertullian bezeugt, daß das Gebet meist stehend verrichtet wurde, besonders an Sonntagen und in der Zeit zwischen Ostern und Pfingsten [zur Erinnerung an die Auferstehung des Herrn]. ↩
Mit „Gebet" ist hier der Kanon bzw. die Präfation der heiligen Messe gemeint. ↩
„Sursum corda!" — „Habemus ad Dominum". Den gleichen Wortlaut überliefert auch Cyrill von Jerusalem, Chrysostomus, Augustin, Cäsarius, Papst Gregor. ↩
Hohes Lied 6, 2. ↩
Kol. 4, 2. ↩
