6.
Du sagst, die Seelen der Apostel und Märtyrer wohnten im Schöße Abrahams oder im Orte der Erquickung oder unter dem Altare Gottes. Sie könnten sich nicht von ihren Grabstätten entfernen, um überall, wo sie wollten, gegenwärtig zu sein1 . Sie besitzen Senatorenwürde. Nicht in einem abscheulichen Kerker unter Menschenmördern werden sie gehalten, sondern in freier, ehrbarer Haft wohnen sie auf den Inseln der Seligen in in den elysäischen Gefilden. Willst du Gott Vorschriften machen? Willst du den Aposteln Ketten anlegen und sie bis zum Gerichtstage in Haft setzen, so daß sie nicht beim Herrn verweilen können, während die Schrift von ihnen sagt: „Sie folgen dem S. 310Lamm, wohin es immer geht“2 . Wenn das Lamm überall ist, dann muß man annehmen, daß auch die, welche bei dem Lamme sich aufhalten, überall sind. Wenn der Teufel und die Dämonen auf dem ganzen Erdkreis umherschweifen und vermöge ihrer außergewöhnlichen Schnelligkeit überall zugegen sind, sollen dann die Märtyrer, die ihr Blut vergossen haben, im Altare eingeschlossen bleiben, ohne sich von dort fortbewegen zu können3 . Du sagst in deinem Büchlein, daß wir, solange wir am Leben sind, gegenseitig für einander beten können. Sind wir aber gestorben, da fände kein Gebet für einen anderen Erhörung, zumal die Märtyrer nicht einmal Rache für ihr Blut erlangen konnten, worum sie gebetet hatten4 . Wenn die Apostel und Märtyrer für andere beten konnten, als sie noch von ihrem Leibe umgeben waren, also zu einer Zeit, in welcher sie noch für sich zu sorgen hatten, um wieviel mehr vermögen sie es, nachdem sie Krone, Sieg und Triumph davongetragen haben. Ein einzelner Mann, Moses, verlangte von Gott Verzeihung für 600 000 Bewaffnete5 . Stephanus, der erste Märtyrer für Christus, bat in Nachahmung seines Herrn um Verzeihung für seine Verfolger6 . Sollen sie weniger Einfluß besitzen, seitdem sie angefangen haben, bei Christus zu sein? Der Apostel Paulus berichtet, daß ihm zweihundertsechsundsiebzig Seelen, die mit ihm im Schiffe waren, geschenkt worden seien7 . Wird er etwa den Mund verschließen, seitdem er aufgelöst und bei Christus ist? Soll er sich nicht rühren können im Interesse jener, die auf dem ganzen Erdkreise an sein Evangelium S. 311geglaubt haben? Wird der lebende Hund Vigilantius besser sein als jener tote Löwe?8 Mit mehr Recht würde ich dieses Wort des Predigers anbringen, wenn ich zugäbe, daß Paulus dem Geiste nach tot sei. Die Heiligen werden nicht als tot, sondern als schlafend bezeichnet. Deshalb heißt es von Lazarus vor seiner Auferstehung, daß er geschlafen habe9 , und der Apostel verbietet den Einwohnern von Thessalonich, über die Schlafenden zu trauern10 . Du aber schläfst wachend und schreibst schlafend und hältst mir eine apokryphe Schrift vor, die von dir und deinesgleichen unter dem Namen Esdras gelesen wird. Dort findet sich geschrieben, es möge nach dem Tode keiner wagen, für die andern zu beten11 . Ich habe dies Buch niemals gelesen. Wozu soll ich es in die Hände nehmen, wenn die Kirche es nicht anerkennt? Schließlich führst du mir auch noch den Balsamus, den Barbelus, den Thesaurus des Mani und den komischen Namen Leusiboras an12 . Weil du an den Füßen der Pyrenäen zu Hause und nicht weit von Iberien entfernt bist, läufst du den mystischen Gestalten des Basilides13 , dieses ältesten, durch seine Unwissenheit hervorragenden Irrlehrers, nach und berufst dich auf Zeugnisse, welche die ganze Welt verwirft. Denn in deiner kleinen Abhandlung führst du ein Zeugnis Salomons, das für dich sprechen soll, an, welches Salomon überhaupt nicht geschrieben hat. Neben deinem zweiten Esdras wirst du wohl noch einen zweiten Salomon besitzen. Wenn es dir Spaß macht, dann lies die erdichteten Offenbarungen aller Patriarchen und S. 312Propheten. Bist du mit ihnen bekannt geworden, dann singe sie den Frauen bei den Webstühlen vor, oder besser, laß sie in deinen Kneipen vorlesen! Durch diese Torheiten wirst du das ungelehrige Volk leichter zum Trinken reizen.
Vigilantius verschiebt den Eingang in die ewige Seligkeit bis zum Jüngsten Gerichte ↩
Off. 14, 4. ↩
Hieronymus löst die Frage, wie die hl. Märtyrer unsere Bitten vernehmen können, mit dem ungenügenden Hinweis auf ihre Schnelligkeit. Augustinus denkt an eine Vermittlung durch Engel. Vgl. Schmidt, Vigilantius 44 f. Die Annahme, daß die Heiligen in Gott unsere Gebete schauen, ist dem christlichen Altertum nicht geläufig. ↩
Off. 6, 10. ↩
Exod. 32 31. ↩
Apg. 7, 60. ↩
Apg. 27, 24. ↩
Pred. 9, 4. ↩
Joh. 11, 11. ↩
1 Thess. 4, 13. ↩
Vgl. B. Violet, Die Esra-Apokalypse. Leipzig 1910, 194. ↩
Balsamus, Barbelus und Leusiboras sind mystische Namen, an welche das System des Gnostikers Basilides anknüpft; Thesaurus ist eine von Augustin öfters zitierte, wenigstens sieben Bücher umfassende Schrift Manis, die wohl mit seiner Schrift „Das Buch der Lebendigmachung“ identisch ist. Realencyklopädie f. prot. Theol. und Kirche XII, 221 [Mani]. ↩
Hieronymus scheint des Basilides Heimat, die man gewöhnlich in Alexandrien oder Syrien sucht, nach Spanien zu verlegen. ↩
