XVIII. Hauptstück. Über die Seele und den Geist und deren Affekte.
§ 1. Es folgt eine andere, und zwar unlösbare Frage, ob Seele und Geist ein und dasselbe sind oder ob etwas anderes das sei, wodurch wir leben, etwas anderes aber das, womit wir fühlen oder denken. Beweisgründe gibt es für beide Ansichten.
S. 278 § 2. Die, welche die Identität beider behaupten, gehen von dem Grundsatze aus, daß weder das Leben ohne Fühlen noch das Fühlen ohne Leben möglich sei; daher könne das nicht verschieden sein, was nicht getrennt werden könne, sondern was immer jenes sein möge, es bilde sowohl das Prinzip des Lebens als des Denkens. Demnach gebrauchen die beiden epikureischen Dichter1 animus [Geist] und anima [Seele, Lebensprinzip] ohne Unterschied.
§ 3. Diejenigen aber, die beide als verschieden erklären, führen den Beweis also: Daß der Geist etwas anderes sei als die Seele [bloß vegetatives Lebensprinzip], könne man daraus erkennen, daß der Geist verloren gehen könne, während die Seele wohlbehalten sei, was ja bei den Wahnsinnigen zutreffe, ferner daraus, daß die Seele durch den Tod zur Ruhe komme, der Geist aber durch den Schlaf, und zwar so, daß er nicht wisse, was er tue oder wo er sei, sondern daß er auch durch eingebildete Vorstellungen getäuscht werde.
§ 4. Man kann zwar das „Wie“ dieses Vorganges nicht erklären, wohl aber das „Warum“. Wir können nämlich nicht schlafen, wenn der Geist nicht mit Vorstellungen beschäftigt ist. Vom Schlafe überwältigt, ist der Geist verborgen wie das Feuer unter der Asche. Entfernt man diese, so flackert es wieder auf und erwacht sozusagen.
§ 5. Der Geist wird also durch Bilder abgelenkt [avocatur], bis die Glieder, durch den Schlummer erfrischt, zu neuem Leben erwachen. Wenn aber der Geist wacht, so ist der Körper, mag er auch unbeweglich daliegen, noch nicht ruhig, da der Geist wie eine Flamme in ihm flackert und schwirrt und alle Organe in Spannung erhält.
§ 6. Sobald aber der Geist [Verstand] von dieser Anspannung zur Betrachtung der Bilder sich wendet, dann erst gibt sich der Leib vollständig der Ruhe hin,
§ 7. Veranlaßt aber wird der Geist dazu durch unklare [Phantasie-]Vorstellungen, wenn er nämlich S. 279 beim Herannahen der Finsternis mit sich allein zu sein anfängt. Während er auf seine Gedanken achtet, kommt der Schlaf, und die Vorstellung zieht allmählich das am nächsten damit Verwandte in ihren Kreis.
§ 8. So fängt er auch an, das zu sehen, was er sich vorgestellt hatte. Dann geht er weiter und sucht sich Erholung, um nicht die so notwendige Ruhe des Körpers zu stören. Denn wie der Geist tagsüber mit wirklichen Vorstellungen sich abgibt, um nicht in Schlaf zu verfallen, so des Nachts mit imaginären, um nicht zu erwachen2. Wenn er nämlich keine Bilder sähe, müßte er entweder wachen oder tot sein3.
§ 9. Des Schlafes wegen ist also der Traum von Gott geschenkt, und zwar allen Lebewesen4 gemeinsam, dem Menschen aber in der Weise noch ganz besonders, daß Gott, während er den übrigen Lebewesen diese psychische Tätigkeit der nötigen Ruhe wegen schenkte, sich die Möglichkeit vorbehielt, den Menschen über Zukünftiges im Traume zu belehren.
§ 10. Denn auch die Geschichte5 bezeugt oftmals, S. 280 daß es Träume gegeben hat, deren Erfolg augenblicklich und wunderbar gewesen ist, und die Aussprüche unserer Seher6 haben zum Teile aus Träumen bestanden.
§ 11. Daher sind sie weder immer wahr noch immer unwahr nach dem Ausspruche des Vergil, der zwei Tore für die Träume annahm7. Die, welche unwahr sind, scheinen des Schlafes wegen zu kommen, die wahren Träume aber werden von Gott gesandt, damit wir ein bevorstehendes Glück oder Unglück durch diese Offenbarung erfahren.
Die beiden epikureischen Dichter sind Lukrez und wahrscheinlich Horaz. ↩
Im großen und ganzen ist die Darstellung des Vorganges beim Träumen richtig gegeben, nur hat Laktanz es hier unterlassen, zwischen Verstand und Phantasie zu unterscheiden; denn beim Träumen läßt die Phantasie die Zügel schießen, und nur manchmal greift das Korrektiv des Verstandes ein. Die Rüstkammer des Traumes bildet das Gedächtnis, woraus die Phantasie die wunderlichsten Gebilde formt. Oft sollen im Traume auch schon wichtige Probleme gelöst worden sein. Dies hat seinen Grund wohl darin, daß Verstand und Phantasie während des Schlafes durch äußere Einflüsse nicht alteriert werden. — Die Annahme, daß die Menschen jedesmal träumen, ist ziemlich sicher, nur haben wir beim Erwachen die Träume oftmals vergessen. ↩
Dieser Satz muß in der Weise erklärt werden, daß die Phantasie und somit der Geist des Menschen in einemfort tätig sind. ↩
Wiederholte Beobachtung hat erwiesen, daß auch höhere Tierklassen träumen. ↩
Die Bibel und auch die Profangeschichte berichten vielfach, daß Gott sich der Träume bedient habe, um die Zukunft voraussehen zu lassen, z. B. Josephs Auslegung des Traumes des Pharao, Daniel. Durch den Propheten Joёl hat Gott versprochen, S. 280 den Menschen durch Träume Mitteilungen zu machen. - Auch die Heiden berichten viel über Träume, z. B. Makrobius, Somnium Scipionis I, 3. Wie bereits oben bemerkt, ist im Traume die Aufmerksamkeit nicht durch äußere Dinge abgelenkt, weshalb ganz natürlicherweise die Lösung von Problemen in demselben gelingt, die im wachen Zustande trotz der größten Anstrengung nicht vonstatten gehen wollte. ↩
Laktantius verhüllt hier wieder seinen christlichen Standpunkt. ↩
Aen. VI, 893 ff. ↩
