XX. Hauptstück. Über sich selbst und über die Wahrheit.
§ 1. Demetrianus, dies habe ich dir einstweilen mit wenigen Worten und vielleicht etwas dunkler, als es sich geziemt hätte, nach Maßgabe des Gegenstandes und der Zeitverhältnisse1 mitgeteilt, und du wirst dich damit zufrieden geben müssen, da du noch einmal, falls der Himmel es gewährt, mehr und Besseres lesen sollst2. Dann werde ich dich zur wahren Philosophie, und zwar vollkommener und besser aufmuntern.
§ 2. Ich habe nämlich beschlossen, alles, was zum ewigen Leben gehört, so viel wie möglich schriftlich niederzulegen, und zwar gegen die Philosophen, die eine ernste Gefahr für die Reinerhaltung der Wahrheit bedeuten.
§ 3. Denn die außerordentliche Macht der Beredsamkeit, die Feinheit der Beweisführung und Dialektik kann leicht einen berücken. Diese werden wir teils mit unseren Waffen, teils mit denen, die aus ihren gegenseitigen Widersprüchen genommen sind, besiegen, damit S. 284 es sich herausstelle, daß sie den Irrtum mehr heraufbeschworen als behoben haben.
§ 4. Vielleicht befremdet es dich, daß ich mich an ein so großes Werk wage. Sollen wir zugeben, daß die Wahrheit3 unterdrückt und vernichtet werde? Ich möchte unter dieser Last sogar lieber hinsinken4.
§ 5. Denn wenn sogar M. Tullius, dieser große Redner, oft Ungelehrten und Ungebildeten, weil diese für die Wahrheit kämpften, unterlegen ist, weshalb sollten wir daran verzweifeln, daß die Wahrheit gegen die trügerische und berückende Beredsamkeit, mit der ihr eigenen Kraft und Herrlichkeit nicht aufkommen werde?
§ 6. Jene5 zwar pflegen sich als Vertreter der Wahrheit zu gebärden: Wer aber kann etwas verteidigen, was er nicht kennt, oder andern etwas klar machen, was er selbst nicht weiß?
§ 7. Ich scheine etwas Großes zu versprechen, aber es bedarf nur der göttlichen Gnade, daß uns die Möglichkeit und die Zeit geboten sei, den Vorsatz auszuführen.
§ 8. Wenn der Weise sich das Leben wünschen soll, so möchte ich wahrlich aus keinem andern Grunde zu leben wünschen, als um ein Werk zu vollbringen, das des Lebens wert wäre, und das den Lesern, wenn schon nicht für die Beredsamkeit, da der Strom der Rede bei mir nur spärlich fließt, so doch fürs Leben Nutzen schaffen möchte. Das ist das einzig Richtige.
§ 9. Gelingt mir dies, so glaube ich genug gelebt und meine Pflicht als Mensch erfüllt zu haben, wenn ich einige Menschen vom Irrtum befreit und ihnen den Weg zum Himmel gewiesen habe.
