XIX. Hauptstück. Die Seele, ein Geschenk Gottes.
§ 1. Auch das kann in Frage kommen, ob die Seele vom Vater oder in höherem Grade von der Mutter oder von beiden ihren Ursprung habe. Gegen diese Behauptungen muß ich mit vollem Rechte in doppelter Hinsicht Verwahrung einlegen.
§ 2. Keiner von diesen drei Fällen trifft zu, weil weder von beiden noch von einem der beiden Teile der Same stammt. Der Körper kann wohl von einem Körper stammen, weil beide Teile etwas dazu beitragen; von den Seelen aber kann die Seele nicht stammen, da von etwas Immateriellem und Unbegreiflichem sich nichts abscheiden kann.
§ 3. Demnach kommt die Bildung der Seelen Gott allein zu1. S. 281 „Endlich stammen wir alle vom himmlisch göttlichen Samen, Alle besitzen den nämlichen Vater“, so lauten Lukrezens Worte2. Denn von Sterblichen kann nur Sterbliches gezeugt werden, und es darf derjenige durchaus nicht für den Vater angesehen werden, der nicht merkt, daß er von seiner Seele die Seele ergossen oder eingehaucht habe und der es dennoch nicht begreift, auch wenn er es merkte, wann und wie das geschieht3.
§ 4. Daraus ergibt sich, daß nicht die Eltern die Seele geben, sondern Gott, der eine und derselbe Vater aller, der da Herr ist über die Zeugung, da er allein sie bewirkt4. Denn dem irdischen Erzeuger kommt bloß die von Wollust begleitete Begattung zu. Dabei bleibt der Mensch stehen, sein Wirken geht nicht weiter, und darum wünschen sie die Geburt von Kindern, da sie dieselben nicht selbst schaffen.
§ 5. Alles übrige kommt Gott zu, nämlich die Empfängnis selber, die Bildung des Körpers, das Einhauchen der Seele, die glückliche Geburt und dann alles, was zur Erhaltung des Menschen dient. Sein Geschenk ist es, daß wir atmen, leben und gesund sind.
§ 6. Denn außerdem, daß wir durch seine Güte gesund sind und daß er uns den Lebensunterhalt aus den verschiedensten Dingen gewährt, hat er dem Menschen auch Verstand verliehen, was der irdische Vater ganz und gar nicht kann; daher stammen oft von Weisen Schwachsinnige und von Schwachsinnigen Weise. Einige schreiben diesen Umstand dem Schicksal und den Gestirnen zu.
§ 7. Hier jedoch ist nicht der Ort, um vom Schicksal zu sprechen; es genügt, zu sagen, daß auch die Gestirne einen Einfluß auf die Dinge ausüben, daß aber nichtsdestoweniger Gott alles dieses tut, der die Gestirne selber geschaffen und ihnen ihre Bestimmung S. 282 angewiesen hat5. Toren also sind die, welche die Macht Gott nehmen und den Gestirnen zuweisen.
§ 8. Ob wir nun dieses herrliche Geschenk [die Vernunft] recht gebrauchen, das hat er uns überlassen. Nachdem er dies gegeben, hat er den Menschen durch die von Christus geoffenbarte Religion verpflichtet6, damit er das ewige Leben erlange7.
§ 9. Groß ist die Macht des Menschen8, groß das Erlösungswerk9, groß das Geheimnis der Gnade10. Wer hiervon nicht abweicht, seinen Glauben und seine Gottergebenheit nicht preisgibt, der ist glücklich, der muß, um mich kurz zu fassen, Gott ähnlich sein11.
§ 10. Es irrt, wer den Menschen nur nach dem Fleische beurteilt; denn dieser Leib bildet bloß die Wohnung des Menschen. Denn der Mensch selber kann weder betastet, noch geschaut, noch begriffen werden, S. 283 da er hinter der sichtbaren Hülle verborgen ist. Wenn er in diesem Leben, das seine Natur erfordert, üppig und wollüstig gewesen ist, wenn er mit Geringschätzung der Tugend den Lüsten des Fleisches sich hingegeben hat, so fällt er und sinkt er zur Erde; wenn er aber an seiner wahren Bestimmung12 herzhaft und unverrückt festhält, wenn er nicht ein Sklave der Welt, die er mit Füßen treten und besiegen soll, gewesen ist, so wird er das ewige Leben erlangen.
Laktanz erklärt sich hier für den Kreatianismus der Seelen durch Gott, gegenüber dem Generatianismus durch die Eltern. ↩
Die Verse stammen aus Lukrez II 991, sq. cf. Paulus: Τοῦ γὰρ καὶ γένος ἐσμέν [aus Aratos]. ↩
Die Beweiskraft dieses Satzes ist offenbar unzulänglich. ↩
Laktanz bringt hier ganz die christliche Anschauung von der Erschaffung der Seele. ↩
Wie man hieraus ersieht, verschließt sich Laktanz nicht ganz gegen den von den Alten vielfach angenommenen Einfluß der Gestirne auf das Schicksal des Menschen. Vgl. dagegen: Joannes Damascenus, De fide orthodoxa II 7, und Cyrill von Jerusalem, Katechesen IV 18. ↩
Der ganze Absatz klingt hier geheimnisvoll und ist wegen der dunklen Ausdrucksweise schwer zu verstehen, daher auch schwer zu übersetzen. Sacramentum virtutis nach des Übersetzers Auffassung: das Geheimnis der Tugend = der Gnade = der durch Christus geoffenbarten Religion. ↩
Im codex Gothanus [g], im Glasgower codex h und in einigen jüngeren codices ist ein von Brandt so benannter „dualistischer Zusatz“ eingefügt, der schon von älteren Gelehrten, namentlich aber von Brandt in seinem Aufsatze: „Die dualistischen Zusätze bei Laktanz“ in den Sitzungsberichten der k. k. Akademie der Wissenschaften in Wien Bd. 118 Abh. VIII als ein von Gnostikern und Manichäern im dualistischen Sinne [Antagonismus zwischen dem guten und bösen Prinzip, Gott und Teufel] eingeschobener Zusatz erkannt worden. ↩
Wegen des ihm verliehenen Lichtes der Vernunft. ↩
magna ratio. - ratio: hier wahrscheinlich die Veranstaltung zur Erlösung der Menschen, das Erlösungswerk, die Heilsökonomie. ↩
sacramentum = das Geheimnis der Tugend, Gnade, Religion? ↩
Ziel des Menschen ist die Gottähnlichkeit. ↩
statum quem rectum sortitus est: Darunter ist nach des Übersetzers Ansicht zu verstehen: Die Bestimmung, durch Übung der Tugend [nach den Vorschriften des Christentums] sein ewiges Ziel zu erreichen. Wörtlich übersetzt hieße es: seine aufrechte Haltung bewahrt [und so meint es auch wohl Laktanz. C. W.]. ↩
