X. Hauptstück. Die äußeren Organe des Menschen und deren Gebrauch.
§ 1. Doch laßt uns zu den Werken Gottes zurückkehren! Damit die Augen gegen äußere Unfälle besser geschützt wären, hat er sie mit Augenlidern verhüllt S. 254 [occuluit], woher nach Varro1 das Wort oculus [Auge] stammen soll.
§ 2. Denn eben die Augenlider [palpebrae], denen ihre Beweglichkeit [palpitatio = schnelle Bewegung] den Namen gegeben hat, gewähren, von reihenweis stehenden Haaren umrandet, einen schönen Schutz für die Augen. Ihre ständige, mit unglaublicher Schnelligkeit sich vollziehende Bewegung hindert das ununterbrochene Sehen nicht, sondern unterstützt vielmehr das Hinschauen.
§ 3. Das Sehorgan, d. i. jenes durchsichtige Häutchen2, das niemals vertrocknen darf, schrumpft, wofern es nicht stets von Flüssigkeit befeuchtet ist, ein.
§ 4. Nun gar die geschwungenen Augenbrauen selber, aus kurzen Haaren bestehend, gewähren sie nicht gleichsam wie ein Damm sowohl Schutz den Augen, damit von oben nichts hineinfalle, als auch eine Zierde? Aus ihrem Vereinigungspunkte erhebt sich die Nase, und gleichsam einen gleichmäßig verlaufenden Kamm bildend, trennt sie sowohl beide Augen, als sie dieselben auch schützt.
§ 5. Auch die unterhalb anstoßenden, schwellenden Wangen schützen, sanften Hügeln gleich, die Augen noch besser nach allen Seiten hin, und es ist vom Schöpfer vorgesehen, daß sogar ein ziemlich starker Schlag durch diesen Vorsprung aufgehalten wird.
§ 6. Der obere Teil der Nase bis zur Mitte hin ist fest, der untere aber infolge seiner knorpeligen Beschaffenheit weich, um sich von den Fingern bearbeiten zu lassen.
§ 7. Dieses, wenngleich höchst einfache Organ, hat dreierlei Verrichtungen: erstens Atemholen, zweitens Riechen, drittens soll durch die Löcher die Absonderung des Gehirnes abfließen. Wie wunderbar, wie voll göttlicher Weisheit hat Gott die Nase gebildet, so daß doch die Öffnung sie nicht entstellte!
§ 8. Das wäre gewiß geschehen, wenn es bloß eine einzige Nasenöffnung gäbe. Indes hat er diese S. 255 gleichsam mit einer die Mitte durchsetzenden Wand abgeteilt und sie durch die Doppelzahl ausgezeichnet.
§ 9. Daraus ersehen wir, wieviel die Zweizahl mit einem festen Einigungspunkte zur Schönheit3 beiträgt. Obschon der Körper nur ein Ganzes bildet, so konnte er doch nicht ganz in der Weise aus einfachen Gliedern bestehen, daß es nicht eine rechte und linke Seite gäbe.
§ 10. Denn wie beide Füße oder beide Hände nicht bloß zum bequemen Gehen und Arbeiten dienlich sind, sondern auch eine schöne Zierde bilden, so verhält es sich auch mit den Organen am Kopfe, der sozusagen die Krone des göttlichen Schöpfungswerkes bildet. Es ist nämlich vom erhabenen Schöpfer das Gehör auf zwei Ohren, das Sehen auf zwei Augen, der Geruchsinn auf zwei Nasenflügel verteilt, da eben auch das Hirn, der Sitz der Wahrnehmung, wenngleich nur als ein Ganzes vorhanden, doch durch eine dazwischen liegende Membrane in zwei Hälften4 zerfällt.
§ 11. Aber auch das Herz, das der Sitz des Verstandes5 zu sein scheint, hat, wiewohl es nur ein Organ ist, im Innern zwei Kammern6, wo, durch eine Wand getrennt, das frische Blut enthalten ist, damit, wie auch in der Welt selber der Grundsatz7 herrscht, daß entweder das Einfache das Doppelte oder das Doppelte das Einfache beherrsche und in sich schließe, so auch am S. 256 Körper alles, aus der Zweiheit bestehend, eine untrennbare Einheit darstelle.
§ 12. Es läßt sich gar nicht sagen, wie schön der Mund und der gerade verlaufende Schlund ist. Der erstere hat die doppelte Aufgabe, nämlich Nahrung aufzunehmen und zu reden.
§ 13. Die in seinem Innern befindliche Zunge, die die Stimme durch ihre Bewegungen in Worte teilt, ist der Dolmetsch des Geistes. Und doch kann diese nicht an sich ihrer Aufgabe entsprechen, wenn sie nicht mit ihrer Spitze am Gaumen anstößt, wenn sie nicht durch die entgegenstehenden Zähne oder durch das Zusammenpressen der Lippen unterstützt wird. Die Zähne jedoch sind dienlicher zum Sprechen.
§ 14. Denn einerseits fangen die Kinder nicht früher an zu sprechen, bevor sie nicht Zähne bekommen, anderseits stammeln die Greise8 nach Verlust der Zähne so, daß sie wieder in die Kindheit zurückversetzt scheinen.
§ 15. Doch betrifft dies nur die Menschen und die Vögel. Bei den letzteren bringt die spitze und in gewisse vibrierende Bewegung versetzte Zunge unzählige Gesangsmodulationen und verschiedene Töne hervor.
§ 16. Die Zunge hat außerdem noch eine andere Aufgabe, die sie bei allen, nicht bloß bei den stummen Lebewesen erfüllt, nämlich die durch die Zähne feingemahlenen Speisen zusammenzuballen und in den Magen hinabzudrücken. Demgemäß meint Varro, daß von „ligando cibo“ [Speisen zusammenballen] das Wort „lingua“ komme.
§ 17. Den Tieren ist sie auch beim Trinken behilflich. Sie strecken nämlich die Zunge heraus, schlürfen damit das Wasser, halten dasselbe in der Höhlung der Zunge fest9, damit es nicht wegen seiner Schwere S. 257 zurückfließe, und schleudern es mit schneller Bewegung an den Gaumen. Die Zunge selber wird nun von dem hohlen Gaumen nach Art eines Schildkrötengehäuses überdacht, und Gott hat sie durch das Gehege der Zähne wie mit einer Mauer umgeben.
§ 18. Die Zähne aber hat er, damit sie nicht offen und unbedeckt mehr zum Schrecken als zur Zierde dienten, mit zartem Zahnfleische — „gingiva“, das von „gignendis dentibus“ [Zahnwachsenlassen] den Namen hat — und mit verdeckenden Lippen versehen. Die Härte derselben ist, wie es für einen Mühlstein angemessen ist, größer als bei den übrigen Knochen, um zum Zerkleinern der Speisen und des Futters zu dienen.
§ 19. Die Lippen aber, die vorher gleichsam zusammengewachsen waren, wie schön hat er sie nicht auseinandergeschnitten! Die Oberlippe hat er gerade unter der Nase mit einer Vertiefung versehen, die Unterlippe dagegen hat er der Schönheit wegen schwellend und weich anwachsen lassen.
§ 20. Was den Geschmack anlangt, so irrt, wer da glaubt, daß der Gaumen diesen Sinn besitze: die Zunge10 ist es nämlich, womit man den Geschmack merkt. Das tut sie aber nicht als Ganzes; denn nur die zarteren Teile zu beiden Seiten empfinden mit dem feinsten Gefühle den Geschmack. Und obschon weder von der Speise noch vom Tranke etwas weniger wird, so dringt doch auf unerklärliche Weise11, geradeso wie beim Riechen der Stoff sich nicht vermindert, der Geschmack zum Sinne.
§ 21. Wie schön die übrigen Körperteile sind, läßt S. 258 sich kaum sagen: Das von den Wangen an sanft verlaufende und in der Weise endigende Kinn, daß sein Ende ein Grübchen anzudeuten scheint, der starre, schlanke Hals, die vom Halse in sanfter Wölbung abfallenden Schultern, die starken und zur Kraftentwicklung mit Sehnen umstrickten Unterarme, die durch hervorragende Muskelbündel ausgezeichneten Oberarme und das schöne, hübsche Ellbogengelenk!
§ 22. Was soll ich von den Händen sagen, den Dienerinnen der Vernunft und Weisheit?12 Diese hat der geschickte Meister aus einer hohlen Fläche gebildet und hat sie, damit die Gegenstände leichter festgehalten werden könnten, in Finger endigen lassen. An diesen ist schwer darzutun, ob ihre Schönheit oder ihr Nutzen größer sei.
§ 23. Denn sowohl die vollkommene Zahl als auch die passende Anordnung, die Gelenkigkeit der [vier] aus gleichviel Gliedern bestehenden Finger, die runde Form der Nägel, welche mit gewölbter Decke die Fingerspitzen umgeben und schützen, damit das weiche Fleisch beim Halten nicht nachgebe, läßt sich sehr schön an.
§ 24. Der Umstand jedoch ist wunderbar, daß ein Finger, von den übrigen getrennt, zugleich mit der Hand beginnt und sich außer Verbindung mit den andern früher entwickelt, der, den andern gleichsam entgegengesetzt, beim Halten und Arbeiten entweder ganz allein oder vorzugsweise den Hauptanteil hat, gleichsam der berechtigte Herrscher über alle andern; daher hat er auch den Namen „pollex“ [polleo], weil er unter den übrigen durch seine Tüchtigkeit hervorragt.
§ 25. Er hat nämlich bloß zwei hervortretende Glieder, nicht drei wie die andern, eines nämlich steht schönheitshalber im Verbande mit der Hand. Wenn nämlich bei seiner Sonderstellung drei Glieder hervorragten, hätte dieser Umstand den Händen ihre Schönheit benommen.
S. 259 § 26. Auch die dem Auge auffallend breit erscheinende Brust stellt sich hübsch dar. Der Grund davon ist der, daß Gott den Menschen gewissermaßen allein aufrecht gebildet zu haben scheint — denn fast kein anderes Tier kann auf dem Rücken liegen —, die Tiere aber scheint er in der Weise geschaffen zu haben, daß sie bald auf der einen, bald auf der anderen Seite liegen und zur Erde gerichtet sein sollten. Daher erhielten diese eine schmale, dem Auge nicht auffällige und zur Erde geneigte, der Mensch aber eine breite, aufrechte Brust, weil sie, voll der himmlischen Vernunft13, nicht gedrückt noch unschön sein durfte.
§ 27. Auch die sanft hervortretenden, von kleinen dunklen Kreisen umgebenden Brustwarzen tragen viel zur Anmut bei. Diese sind dem weiblichen Geschlechte zur Ernährung der Kinder, den Männern bloß zur Zierde gegeben, damit die Brust nicht ungestalt und gleichsam verstümmelt erschiene. Auf die Brust folgt der Bauch, den in der Mitte gar nicht unschön der Nabel markiert, mit dem Zwecke, daß durch ihn das Kind im Mutterleibe ernährt werde.
M. Terentius Varro, röm. Altertumsforscher, geb. 116 v. Chr. ↩
Darunter versteht Laktanz offenbar die Linse. ↩
Ein ästhetischer Grundsatz. ↩
Nach Laktanz zerfällt das Hirn in zwei Hälften: das Großhirn und das Kleinhirn, während wir auch beim Großhirn wieder eine rechte und linke Hälfte unterscheiden. ↩
Das Herz gilt hier, wie überhaupt bei den Alten, als Sitz des Verstandes. ↩
Nach Laktanz hat das Herz nur zwei Kammern, während wir zwei Kammern und zwei Vorkammern, die durch die Herzklappen mit jenen in Verbindung stehen, unterscheiden. ↩
summa rerum wird von einigen Gelehrten, denen Brandt sich anschließt, als Gott Vater und Gott Sohn erklärt; Migne aber meint, daß darunter nur die zwei Hauptelemente, Feuer und Wasser, zu verstehen seien und bezieht sich dabei auf Inst. II, 8 und 9; auch sonst werde nirgends bei Laktanz Gott summa rerum genannt. Ich habe meine Ansicht darüber bereits in der Einleitung dahin ausgesprochen, daß darunter ein in der Welt herrschendes Schönheitsprinzip zu verstehen sei. ↩
Die Zähne erleichtern wohl das Sprechen, bedingen es aber nicht, was sich daraus erweisen läßt, daß alte Leute, die schon alle Zähne verloren haben, noch ganz deutlich und artikuliert sprechen. ↩
Beim Trinken bedienen sich nur gewisse Tiere, wie etwa die Hunde, der Zunge, während die übrigen Tiere das Wasser einschlürfen. ↩
Wenn Laktanz behauptet, daß nur die Zunge und nicht einmal diese in ihrer ganzen Oberfläche [Ausdehnung], sondern deren zartere Teile zu beiden Seiten den Geschmack empfänden, so befindet er sich insoweit im Irrtume, als auch der Obergaumen als Geschmacksorgan dient und von der Zunge der Geschmack mit den auf ihrer ganzen oberen Seite verteilten Papillen wahrgenommen wird. ↩
Dem Laktantius ist es unbekannt, daß Geruch und Geschmack darauf beruhen, daß sich mikroskopisch kleine Teilchen von den betreffenden Stoffen loslösen und sodann auf unsere Sinnesorgane wirken. ↩
Die Hand wird die Dienerin der Vernunft genannt, weil der vernunftbegabte Mensch die meisten Handlungen mit Hilfe der Hand ausführt. ↩
Klingt an die Lehre der Stoiker an. ↩
