Vierter Artikel. Vier Leidenschaften sind die hauptsächlichen: Freude, Trauer, Hoffnung und Surcht.
a) Dies scheint nicht. Denn: Erreichung des Zweckes in Betracht gezogen, so ist die Liebe die Hauptleidenschaft. In keiner Weise also sind jene vier als Hauptlleidenschaften aufzuzählen. III. Wie die Kühnheit aus der Hoffnung folgt, so wird die Furcht durch die Verzweiflung verursacht. Entweder müssen also die Hoffnung und Verzweiflung als verursachende wie Hauptleidenschaften angesehen werden oder die Hoffnung und die Kühnheit, die sich verwandt sind. Auf der anderen Seite zählt Boëtius (l. de consol. mrtr. 7.) diese vier Leidenschaften als hauptsächliche auf: Gaudia pelle, pelle timorem, spemque fugato, nec dolor adsit.
b) Ich antworte, diese vier Leidenschaften werden gemeinhin als die hauptsächlichen bezeichnet. Die Freude und Trauer nämlich sind die EndLeidenschaften, welche alle anderen vollenden und beruhigen; weshalb sie nach 2 Ethic. 3. auf alle diese anderen folgen. Die Furcht und die Hoffnung aber sind vollendende im Bereiche der Bewegungen zu etwas hin. Denn mit Rücksicht auf das Gute fängt die Bewegung an in der Liebe, setzt sich fort im Begehren, geht zu Ende in der Hoffnung; und mit Rücksicht auf das Böse fängt sie an im Hasse, setzt sich fort in der Flucht vor etwas, geht als Bewegung zu Ende in der Furcht. Und deshalb pflegt die Zahl dieser vier Leidenschaften betrachtet zu werden gemäß dem Unterschiede von Gegenwärtigem und Zukünftigem. Denn die Bewegung geht auf das Zukünftige, die Ruhe auf das Gegenwärtige was man schon hat. Über das gegenwärtige Gute also freut man sich; über das gegenwärtige Übel trauert man; das zukünftige Gute hat zum Gegenstande die Hoffnung, das zukünftige Übel die Furcht. Es sind sonach diese vier Leidenschaften die hauptsächlichen, weil sie allgemeine Bedeutung haben, insofern Hoffnung und Furcht gemeinhin bezeichnen die Bewegung des Begehrens, das etwas haben will oder vor etwas flieht.
c) I. Das Begehren setzt Augustin an die Stelle der Hoffnung, weil es ebenfalls auf etwas Zukünftiges geht. II. Diese vier Leidenschaften sind die hauptsächlichen gemäß der Ordnung, welche von der Absicht kommt und gemäß dem Vollenden. Und obgleich die Hoffnung und die Furcht nicht schlechthin die letzten Leidenschaften sind, so sind sie doch nach der Seite hin die letzten in der Seinsart der Leidenschaften, daß sie auf etwas wie auf etwas Zukünftiges sich richten. Höchstens könnte der Zorn hier eingeworfen werden. Dieser kann jedoch nicht Hauptleidenschaft sein, weil er nur eine gewisse Wirkung der Kühnheit ist; und die Kühnheit kann nicht, wie unten noch entwickelt werden wird (Kap. 45, Art. 2 ad III.), Hauptleidenschaft sein. III. Die Verzweiflung schließt die Entfernung vom Guten ein; berücksichtigt also das Gute nicht an sich, in seiner Natur, sondern nur auf Grund eines hinzutretenden Umstandes, per accidens. Und die Kühnheit geht voran auf das Übel zu, was ebenso nicht der Natur des Übels gebührt, sondern nur mit Rücksicht auf etwas Hinzutretendes. Was aber einzig auf Grund von etwas Nebensächlichem Bestand und Sein hat, das kann nicht etwas Hauptsächliches sein; und so kann auch der Zorn als bloße Wirkung der Kühnheit keine Hauptleidenschaft genannt werden.
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