Erster Artikel. Der Mensch kann, abgesehen vom Beistande der Gnade, manches wahre erkennen.
a) Das Gegenteil scheint zu sagen: I. Paulus (1. Kor. 12.): „Niemand kann sagen, Herr Jesus, es sei denn im heiligen Geiste;“ wozu Ambrosius bemerkt: „Alles Wahre, von wem auch immer es gesagt wird, ist vom heiligen Geiste;“ also von der Gnade, kraft deren der heilige Geist in uns wohnt. II. Augustin (1 Soliloq.): „Das ist in den Wissenszweigen das Zuverlässigste, was so beschaffen erscheint, wie das, was von der Sonne beleuchtet wird, daß es gesehen werden könne. Gott aber selbst ist es, der Alles beleuchtet; die Vernunft jedoch ist so in den Geistern, wie in den Augen ist der Anblick; des Geistes Augen sind die Sinne der Seele.“ Das körperliche Auge kann aber, so rein auch immer es sein mag, nichts erkennen ohne die Beleuchtung von seiten der Sonne oder von seiten dessen, was die Stelle der Sonne vertritt. Also kann auch der menschliche Geist, so vollkommen er auch sein mag, nichts Wahres durch sein Schließen erfassen außer erleuchtet von Gott, d. h. unter dem Beistande der Gnade. III. Nur kraft des Denkens kann die menschliche Vernunft verstehen. Paulus aber sagt (2. Kor. 3.): „Wir sind von uns aus nicht hinreichend, etwas zu denken, als ob dies in uns seinen Ursprung hätte.“ Auf der anderen Seite sagt Augustin (1 Rhet. 4.): „Ich billige nicht, was ich im Gebete gesagt: Gott, der du gewollt hast, daß nur Reine das Wahre verstehen; denn es kann erwidert werden, viele Unreine wüßten auch manches Wahre.“ Durch die Gnade aber eben wird der Mensch rein, nach Ps. 30.: „Ein reines Herz erschaffe in mir, o Gott, und den rechten Geist erneuere in meinem Innern.“ Ohne die Gnade zu haben also kann der Mensch Wahres erkennen.
b) Ich antworte, Wahrheit erkennen sei ein Gebrauch oder eine Thätigkeit des Vernunftlichtes; denn „Alles was offenbar wird ist Licht,“ nach Ephes. 5. Gebrauchen aber etwas schließt immer eine gewisse Bewegung ein, soweit Bewegung im weiteren Sinne für jegliches Thätigsein genommen wird. Nun sehen wir im Bereiche des Körperlichen, daß zu einer Bewegung nicht nur die maßgebende Form erfordert wird, als inneres Princip der Bewegung oder des Thätigseins; sondern auch dies, daß der erstbewegende den Anstoß giebt zur Bewegung. Das Erstbewegende aber im Körperlichen ist der Himmelskörper. Wie viel Wärme also auch und zwar in vollkommenem Maße das Feuer haben mag, es würde nicht eine Änderung in den Dingen oder in deren Zuständen hervorbringen, wenn nicht der Anstoß für die bestimmte Richtung der Thätigkeit vom Himmelskörper ausginge. Nun werden offenbar, wie alle Bewegungen im Körperlichen auf die den Anstoß gebende Bewegung der Himmelskörper als auf das körperliche Erstbewegende, so alle Bewegungen überhaupt, sowohl die geistigen wie die körperlichen, auf Gott zurückgeführt, als auf den schlechthin und ohne weiteres Erstbewegenden. Wie weit auch immer eine Natur also, sei es eine körperliche oder geistige, vollkommen sei, sie kann nur unter der Voraussetzung, daß sie von seiten Gottes den Anstoß zur Bewegung erhält, in Thätigkeit treten; und zwar ist dieser Anstoß zur Bewegung gemäß der Richtschnur und dem Charakter seiner Vorsehung, nicht gemäß dem notwendigen Zusammenhange der Naturen, wie der von den Himmelskörpern ausgehende. Nicht nur aber ist von Gott alle thatsächliche Bewegung wie vom Erstbewegenden, sondern von Ihm rührt auch her alle Vollendung in der maßgebenden Form wie von dem Ersten thatsächlichen Sein. So also hängt die Thätigkeit der Vernunft und jeglichen geschaffenen Seins von Gott ab mit Rücksicht auf zweierlei: einmal insoweit von Gott die Vollendung in der Form kommt, vermittelst deren die Vernunft thätig ist; und dann insoweit sie von Ihm aus den Anstoß zur Thätigkeit erhält. Eine jegliche solche vollendende Form jedoch in den geschaffenen Dingen richtet ihre Wirksamkeit auf etwas ganz bestimmt Abgegrenztes gemäß der ihr eingeprägten Eigenheit. Darüber hinaus kann sie nur in dem Falle, daß ihr eine weitere vollendende Form hinzugefügt wird, wie das Wasser nur in dem Falle erwärmen kann, wenn das Feuer es erwärmt hat. So nun hat die menschliche Vernunft eine gewisse maßgebende Erkenntnisform, nämlich das natürliche Vernunftlicht selber, das da von sich aus hinreicht, um Einiges zu erkennen, zu dessen Kenntnis man nämlich gelangen kann vermittelst der sinnlich wahrnehmbaren Dinge. Erkennbare Dinge höherer Ordnung aber kann sie nur dann erkennen, wenn ihr ein stärkeres Licht noch hinzugefügt wird, wie das Licht des Glaubens oder der Prophetie, das man „Licht der Gnade“ nennt; denn es tritt zur Natur hinzu. Deshalb muß man sagen, zur Erkenntnis jeglicher Wahrheit bedürfe die Vernunft eines Beistandes von Gott, daß nämlich der Anstoß zur einzelnen vernünftigen Thätigkeit von Gott ausgehe. Jedoch bedarf sie nicht zur Kenntnis jeglicher Wahrheit eines neuen zum natürlichen hinzugefügten Lichtes, sondern nur da, wo das Bereich des Natürlichen überschritten wird. Trotzdem aber unterrichtet vermittelst seiner Gnade Gott manchmal auch in wunderbarer Weise einige darüber, was durch die natürliche Vernunft erkannt werden kann; wie Er manchmal durch ein Wunder macht, was sonst die Natur ebenfalls vollenden kann.
c) I. Der heilige Geist gießt auch das natürliche Vernunftlicht ein und giebt den Anstoß zum Erkennen und zum Sprechen des Wahren; nicht aber kommt jegliche Erkenntnis des Wahren vom heiligen Geiste, insoweit dieser durch die Gnade in der Seele wohnt oder zur natürlichen Erkenntnisform eine übernatürliche hinzufügt. Letzteres hat zumal statt in dem, was zum Glauben gehört. II. Die Geistersonne, Gott, leuchtet im Innern des Geistes; also das natürliche der Seele eingeprägte Licht selber ist ein Leuchten Gottes, wodurch wir erleuchtet werden, um das der natürlichen Kenntnis Zugängliche zu erkennen. III. Immer muß unserer Vernunft durch den Beistand Gottes der Anstoß gegeben werden zur Thätigkeit, also zum Denken. Denn das thatsächliche Erkennen nennt man Denken, (Aug. 14. de Trin.)
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