Erster Artikel. Eine Wirkung des Gesetzes ist es, die Menschen gut zu machen.
a) Das scheint falsch zu sein. Denn: I. Die Menschen sind gut kraft der Tugend. Die Tugend aber hat der Mensch von Gott allein; „denn Gott macht sie in uns ohne uns“ (vgl. Kap. 55, Art. 4). Also hat damit das Gesetz nichts zu thun. II. Das Gesetz nützt dem Menschen nichts, wenn er ihm nicht gehorcht. Daß er aber gehorcht kommt eben daher, daß der Mensch bereits gut ist. Also setzt das Gesetz vielmehr das Gutsein voraus. III. Das Gesetz dient dem Gemeinbesten. Manche aber sind in guter Beziehung zum gemeinen Besten, die ihrem eigenen Besten gegenüber nicht sich gut verhalten. Also geht dies das Gesetz nichts an, daß die Menschen gut werden. IV. Manche Gesetze sind tyrannisch, nach 3. Polit. 7. Der Tyrann aber will nicht das Beste der Untergebenen, sondern seinen Privatvorteil. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (1. Ethic. ult.): „Der Wille eines jeden Gesetzgebers geht dahin, die Menschen gut zu machen.“
b) Ich antworte, das Gesetz sei eine Vorschrift in der Vernunft desjenigen, der Untergebene leitet. Eines jeden Untergebenen Tugend aber besteht darin, daß er gut Unterthan sei dem, der ihn leitet; wie die Tugend in der Abwehr- und Begehrkraft darin besteht, daß diese Kräfte folgsam sind der Vernunft. (1 Polit. ult.) Dahin nun ist jedes Gesetz hingeordnet, daß ihm von den Untergebenen gut gehorcht werde. Also ist dies offenbar dem Gesetze eigen, daß es die Untergebenen anleitet zu der ihnen als Untergebenen eigenen Tugend. Da jedoch die Tugend gut macht den, der sie hat, so folgt, daß es die dem Gesetze eigens entsprechende Wirkung sei, gut zu machen die, denen dasselbe gegeben wird und zwar gut entweder schlechthin oder nach einer gewissen Seite hin. Denn wenn die Absicht des Gesetzgebers auf das wahre Gut des Untergebenen sich richtet, so werden durch die Gesetze die Menschen gut schlechthin. Geht aber die Absicht des Gesetzgebers auf das, was nicht schlechthin gut ist, sondern was nur nützlich ist oder für ihn selber ergötzlich oder zuwider der göttlichen Gerechtigkeit, so macht das Gesetz nicht schlechthin gut, sondern nur nach einer gewissen Seite hin, nämlich mit Beziehung auf eine derartige Regierung. So aber findet sich Gutes auch in denen, die an und für sich böse sind; wie jemand ein guter Räuber sein kann, weil er seinem Zwecke angemessen thätig ist.
c) I. Die Tugend ist entweder eine erworbene oder eine eingegossene. Zu beiden Arten aber trägt etwas bei die Angewöhnung an die betreffenden Werke; jedoch in verschiedener Weise. Denn die erworbene Tugend wird verursacht von der Angewöhnung; zur eingegossenen Tugend aber bereitet dieselbe vor, und erhält und fördert die verliehene. Und weil das Gesetz zu dem Zwecke gegeben wird, daß es die menschlichen Akte lenke, so macht es insoweit die Menschen gut als die menschlichen Thätigkeiten zur Tugend beitragen. Deshalb sagt Aristoteles (2 Polit. 6.): „Die Gesetzgeber machen gut die sich daran Gewöhnenden“ II. Manchmal gehorcht man dem Gesetze aus Furcht vor Strafe, oder weil man dasselbe vernünftig findet; nicht immer aus vollendeter Tugend, sondern infolge eines Beginns der Tugend. III. Die Güte des Teiles hängt von seinem Verhältnisse zum Ganzen ab; denn „schimpflich ist jeder Teil, der für das Ganze nicht passend ist“ sagt Augustin. (3. Conf. 8.) Also kann der einzelne Mensch, der ja ein Teil des Gemeinwesens ist, gar nicht für sich allein gut sein, wenn er nicht im gebührenden Verhältnisse steht zum Gemeinbesten; und das Ganze seinerseits kann nur aus Teilen bestehen, die in geordnetem Verhältnisse zu einander stehen. Also kann das Ganze des Gemeinwesens sich nicht gut verhalten, wenn die einzelnen Glieder, die Bürger, nicht tugendhaft sind; zum mindesten jene, denen die Leitung obliegt. Für das Gemeinbeste genügt es dann, daß die anderen insoweit tugendhaft sind, daß sie den erlassenen Gesetzen gehorchen. Deshalb sagt Aristoteles (3 Polit. 3.): „Ein und dieselbe Tugend ist es, durch die jemand ein guter Fürst und ein guter Mensch ist; bei den Bürgern aber ist das nicht die nämliche Tugend, guter Bürger zu sein und guter Mensch.“ IV. Das tyrannische Gesetz ist nicht gemäß der Vernunft; ist also kein Gesetz, sondern die Verkehrtheit des Gesetzes. Und doch nimmt es nach der Seite hin am Charakter eines Gesetzes teil, daß es beabsichtigt, die Bürger gehorsam und danach gut zu machen; freilich mit Beziehung nur auf solch verkehrte Regierung.
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