Vierter Artikel. Christus hatte eine selbsterworbene Wissenschaft.
a) Dem steht entgegen: I. Was Christus hatte, das besaß Er in hervorragendster Weise. Ein selbsterworbenes Wissen aber hatte Christus jedenfalls nicht. Denn Er beschäftigte sich nicht mit wissenschaftlichem Studium, wodurch Wissen in vollkommener Weise erworben wird; weshalb es ja Joh. 7. heißt: „Und es wunderten sich die Juden und sagten: Wie weiß dieser die Wissenschaft, da Er sie nicht gelernt hat?“ Also war in Christo kein selbsterworbenes Wissen. II. Was angefüllt ist, zu dem kann nichts weiter hinzugefügt werden. Christi Vernunft aber war angefüllt von den ihr durch das göttliche Wort eingeprägten Ideen. Also konnten keine selbsterworbenen mehr hinzutreten. III. Wer einen Wissenszustand bereits in sich besitzt, in dem wird dadurch, daß er das Entsprechende mit dem Sinne erfaßt, kein neuer Zustand erzeugt, sondern der bereits bestehende wird gefestigt oder vermehrt. Also hat Christus, der eingegossene Wissenschaft besaß, durch das, was Er mit dem Sinne erfaßte, keinen neuen Wissenszustand erlangt. Auf der anderen Seite heißt es Hebr. 5.: „Obgleich Er Sohn Gottes war, hat Er aus dem, was Er gelitten, den Gehorsam gelernt,“ wozu die Glosse bemerkt: „Er hat es durch die Erfahrung gelernt.“
b) Ich antworte; nichts von dem, was Gott in unsere Natur gepflanzt hat, fehlte der menschlichen Natur in Christo. Offenbar aber pflanzte Gott in unsere Natur nicht nur die „mögliche“ erkennende Vernunft, sondern auch die wirkende, die Dinge nämlich zu vernünftig erkennbaren machende Vernunft. Also war in Christo notwendig sowohl die „mögliche“ wie die einwirkende Vernunft. Wenn aber Gott und die Natur in anderen Dingen nichts zwecklos machen, dann um so weniger war etwas unnütz in der Seele Christi. Also hatte auch die einwirkende Vernunft, der intellectus agens, die ihr zukommende Thätigkeit in Christo. Und da nun die Thätigkeit dieses Vermögens darin besteht, von den Phantasiebildern loszulösen die vernünftige Idee und so diese zu einer thatsächlich bestehenden und die „mögliche“ Vernunft bethätigenden und bestimmenden zu machen; so ist offenbar, daß Christus Ideen geschöpft hat aus der sichtbaren Welt um Ihn herum und daß Er so ein selbsterworbenes Wissen besaß, was von manchen „Erfahrung“ genannt wird. Und deshalb, obgleich ich anderswo anders geschrieben habe (III. Sent. q. 3. art. 3. q. 5.), muß man sagen, daß in Christo wirklich erworbene Wissenschaft gewesen sei, die man nach der menschlichen Weise „Wissenschaft“ nennt; und zwar nicht bloß von seiten des aufnehmenden Vermögens her, sondern auch von seiten der einwirkenden Ursache. Denn solches Wissen wird in Christo angenommen gemäß dem Lichte der einwirkenden Vernunft, die im Menschen ein seiner Natur zukommendes Vermögen ist. Die eingegossene Wissenschaft aber wird Christo zugeschrieben gemäß dem Lichte von oben, welche Art und Weise entspricht der Engelnatur. Und die Wissenschaft der seligen, durch die Gottes Wesen geschaut wird, kommt als der eigenen Natur entsprechend und folgend nur Gott zu.
c) I. Durch eigenes Erfinden und durch Anlernen kann man Wissenschaft sich erwerben. Die erste Art und Weise ist die vorzüglichere. Deshalb heißt es 1 Ethic. 4.: „Jener steht am höchsten, der Alles durch sich selber erkennt; gut ist aber auch derjenige, der dem gut lehrenden folgt.“ Also kommt Christo, zumal als dem Lehrer aller, die erste Art und Weise der erworbenen Wissenschaft zu, nach Joel 2.: „Freuet euch in Gott dem Herrn; denn Er gab euch einen Lehrer der Gerechtigkeit.“ II. Die menschliche Vernunft hat Beziehung nach oben; und danach ist in Christo die eingegossene Wissenschaft. Sodann hat sie Beziehung zum Niedrigeren d. h. zu den Phantasiebildern, welche von Natur geeignet sind, den menschlichen Geist vermittelst der einwirkenden Vernunft in Thätigkeit zu setzen. Damit also die Seele Christi vollendet werde mit Rücksicht auf die Phantasiebilder, nicht als ob die Fülle der von oben eingegossenen Wissenschaft nicht genügt hätte, ward auch nach unten zu die Seele Christi mit Wissenschaft und sonach mit erworbener, angefüllt. III. Hier ist zu unterscheiden zwischen dem selbsterworbenen Zustande und dem eingegossenen. Denn der Zustand des Wissens wird erlangt auf Grund des Verhältnisses der menschlichen Vernunft zu den Phantasiebildern; und nach dieser Seite hin kann nicht gemäß dem nämlichen Wesenscharakter ein Zustand wiederholtermaßen erworben werden, bloß weil man wieder Neues erkennt, sondern ist er einmal erworben, so wird er durch neue sinnliche Auffassungen gestärkt und vermehrt. Aber hier handelt es sich um einen nicht vermittelst der Phantasiebilder erworbenen, sondern von einem höheren Lichte eingegossenen Zustand, der also einen ganz anderen Wesenscharakter trägt. Und somit besteht da zwischen diesen beiden Arten Zustände kein Verhältnis.
