Dritter Artikel. Zukömmlich war es, daß der Engel in körperlicher Gestalt Maria erschien.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. „Das rein geistige, vernünftige Gesicht ist würdiger wie ein körperliches,“ sagt Augustin (12. de Gen. ad litt. 24.); zumal dies mehr einem Engel geziemt, der im rein vernünftigen Schauen in seiner wahren Substanz, während beim körperlichen Gesicht nur eine angenommene Erscheinung gesehen wird. Hier aber, wo es sich um das Höchste handelt, mußte die höchste Art Gesicht eintreten. II. Das Gesicht vermittelst eines Phantasiebildes ist auch noch würdiger wie das körperliche. Dem Joseph aber erschien der Engel im Traume, nach Matth. 1 und 2. Also durfte hier bei Maria kein körperliches Gesicht sein. III. Solche körperliche Erscheinungen erschrecken, wie ja dies auch bei Maria der Fall war; denn „sie ward verwirrt“. Besser aber wäre es gewesen, dies bei einer so wichtigen Sache zu vermeiden. Auf der anderen Seite führt Augustin (25. sermo in app.) die Mutter Gottes sprechend ein: „Es kam nun zu mir der Erzengel Gabriel, leuchtenden Antlitzes, mit glänzendem Kleide, bewundernswert in seinem Hereintreten.“ Also.
b) Ich antworte, aus drei Gründen sei es zukömmlich gewesen, daßGabriel in körperlicher Erscheinung zu Maria kam. Denn 1. kam der Engel, um anzukündigen, daß der unsichtbare Gott als ein sichtbarer Mensch erscheinen würde; und so war es zukömmlich, daß er sich dabei einer sichtbaren Form bediente, zumal ja auch alle sichtbaren Erscheinungen im Alten Testamente zu diesem Geheimnisse Beziehung haben; — 2. kam dies der Mutter Gottes zu, die nicht nur im Geiste, sondern in ihrem Leibe das ewige Wort empfangen sollte; und so mußte nicht nur ihr Geist, sondern auch der sinnliche Teil gestärkt werden; — 3. entsprach dies mehr der Zuverlässigkeit dessen, was verkündet werden sollte; denn was wir mit Augen sehen, erfassen wir sicherer wie das, was nur in der Einbildungskraft ist. Deshalb sagt Chrysostomus (hom. 4. in Matth.): „Der Engel kam sichtbarerweise, nicht im Traume zur Jungfrau. Denn weil so groß war der Gegenstand der Verkündigung, erschien vonnöten ein ganz zuverlässiges, feierliches Gesicht.“
c) I. Die rein vernünftige Vision oder auch die in der Einbildungskraft ist würdiger, wie die körperliche, wenn letztere allein da ist. Maria aber hatte nicht die bloße körperliche, sondern zugleich die rein vernünftige; und so hatte sie eine würdigere, als wenn die rein vernünftige allein da ist. Freilich wäre es höher gewesen, wenn sie den Engel in seiner Substanz gesehen hätte. Aber dies vertrug sich nicht mit dem Stande der Erdenpilgerschaft, einen Engel kraft dessen Substanz zu sehen. II. Die Einbildungskraft ist freilich ein höherstehendes Vermögen wie der äußere Sinn. Weil aber die äußeren Sinne das Princip oder den Anfang der menschlichen Erkenntnis bilden, so liegt in ihnen die größte Gewißheit; denn immer bieten die Pnncipien, aus denen die Kenntnis fließt, in höherem Grade Zuverlässigkeit. Und somit hatte Joseph keine so hohe Vision wie Maria. III. „Wir werden verwirrt, wenn wir erfaßt werden vom Entgegentreten einer höheren Gewalt,“ sagt Ambrosius (sup. Luc. 1.). Dies also findet statt bei jeder solchen Vision, auch in jener der Einbildungskraft. Deshalb steht Gen. 15., „daß, als die Sonne untergegangen war, Schlaf den Abraham überkam; und ein großer Schrecken überfiel ihn.“ Ein solcher Schrecken aber schadet dem Menschen nicht, als ob darüber die Vision selber vielmehr wegbleiben sollte. Denn 1. kommt der Schrecken eben daher, daß der höhere Teil über sich selbst erhoben wird und somit zu größerer Würde gelangt, während der niedere Teil geschwächt wird; wie ja auch, wenn die natürliche Lebenskraft in das Innere zurückkehrt, die äußeren Glieder zittern; — 2. „heilte der Engel sogleich solche Verwirrung, da er die menschliche Natur kennt, so daß er hier zu Maria wie auch zu Zacharias sagte: „Fürchte nicht“ (Origenes sup. Luc. hom. 4.); weshalb, wie im Leben des heiligen Antonius gelesen wird (vitae patr. I., 18.), nicht schwer ist die Unterscheidung der guten und bösen Geister. Denn wenn nach der Furcht Freude eintritt, so kommt der Beistand von Gott und ist die Sicherheit in der Seele ein Anzeichen der Gegenwart der göttlichen Majestät. Bleibt aber die Angst in der Seele, so ist es der Feind, der gesehen wird. Die Verwirrung selber in Maria kam ihrer jungfräulichen Schamhaftigkeit zu, wie Ambrosius sagt: „Sache der Jungfrauen ist es, zu zittern und beim Eintreten eines Mannes zu fürchten und seine Anrede zu scheuen.“ Andere sagen, die Erscheinung des Engels hätte Maria nicht verwirrt, denn sie war an solche Erscheinungen gewöhnt. Aber das Großartige, wasda gesagt wurde, setzte sie in Furcht; weil sie so Hohes von sich nicht dachte. Deshalb sagt der Evangelist, sie sei verwirrt worden, nicht im Sehen, sondern „in der Rede“ des Engels.
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