Zweiter Artikel. Christus durfte bei einzelnen Juden anstoßen, damit nicht das Heil des Judenvolkes darunter litte.
a) Dagegen wird Folgendes geltend gemacht: I. Nach Augustin (de agone christ. 11.) „stellte sich Christus als Mensch uns wie ein Beispiel vor.“ Wir aber sollen weder bei gläubigen noch bei ungläubigen anstoßen, nach 1. Kor. 10.: „Ohne Anstoß seiet den Heiden, den Juden und der Kirche Gottes gegenüber.“ Also durfte auch Christus bei niemandem anstoßen durch seine Predigt. II. Keiner, der weise ist, darf die Wirkung seines eigenen Thuns hindern. Christi Lehre aber brachte Verwirrung unter die Juden und ward so deren Wirkung gehindert, nach Luk. 11.: „Nachdem der Herr die Pharisäer und Schriftgelehrten getadelt, fingen sie an, genau auf Ihn achtzugeben;und Ihm in Vielem zu widersprechen; sie stellten Ihm nach und suchten etwas aus seinem Munde zu erhaschen, damit sie Ihn anklagten.“ Christus durfte also in seinem Lehren bei niemandem anstoßen. III. 1. Tim. 5. heißt es: „Dem älteren mache keine Vorwürfe, sondern bitte ihn, wie einen Vater.“ Die Pharisäer aber und Fürsten der Juden waren im Judenvolke die Ältesten. Also durfte Jesus sie nicht tadeln. Auf der anderen Seite ist in Isaias (8, 14.) über Christum vorhergesagt: „Er soll sein zu einem Steine des Anstoßes den beiden Häusern Israel.“
b) Ich antworte, das Heil der ganzen Menge sei vorzuziehen dem Frieden mit einigen einzelnen Menschen. Wenn also einzelne durch ihre Verkehrtheit ein Hindernis sind für das Heil des ganzen Volkes; so darf der Prediger nicht fürchten, bei diesen anzustoßen, damit er nicht schuldig werde des Verderbens der Menge. Die Pharisäer und Schriftgelehrten aber hinderten vielfach aus Bosheit das Heil der Menge; sei es daß sie der Lehre Christi widerstrebten, die allein zum Heile führen konnte, sei es daß sie mit ihren schlechten Sitten das Leben des Volkes verdarben. Der Herr also predigte ohne Furcht, bei ihnen anzustoßen, die Wahrheit, die ihnen mißfiel; und tadelte öffentlich ihre Laster. Deshalb antwortete Er den Jüngern, die zu Ihm gesagt hatten: Weißt Du auch, daß die Pharisäer, als sie dieses Wort hörten, Anstoß nahmen?: „Lasset sie; blind sind sie und Führer von blinden; — wenn aber der eine blinde den anderen führt, fallen sie beide in die Grube.“
c) I. In der Weise darf kein Mensch beim anderen anstoßen, daß er einem durch sein Sprechen oder Thun Anlaß gebe, zu Grunde zu gehen. „Ersteht aber ob der Wahrheit ein Ärgernis, so ist das Ärgernis vielmehr zu ertragen als daß die Wahrheit beiseite gelassen werde“ (Greg. hom. 7. in Ezech.). II. Dadurch daß der Herr öffentlich die Pharisäer und Schriftgelehrten tadelte, hinderte Er nicht, sondern beförderte die Wirkung seiner Lehre. Denn da deren Laster damit dem Volke bekannt wurden, konnten die Pharisäer das Volk minder abwenden von der Lehre Christi, der sie immer widerstanden. III. Jene Stelle ist von den Älteren zu verstehen, die nicht nur durch Alter oder Stellung hervorragen, sondern auch durch die Ehrbarkeit ihres Lebens, nach Num. 11.: „Sammle mir siebzig Männer von den Älteren Israels, die du kennst, daß sie wahrhaft Ältere des Volkes sind.“ Verkehren sie aber das Ansehen des Greisenalters zum Werkzeuge der Bosheit, indem sie öffentlich sündigen; dann sind sie heftig und scharf zu tadeln, wie Daniel (13.) es that mit den Worten: „Du, Altgewordener in der Bosheit“ … (Art. 3.).
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