Vierter Artikel. Christo geziemte es nicht, seine Lehre schriftlich niederzulegen.
a) Dagegen spricht Folgendes: I. Die Schrift ist erfunden, damit das Wort der Lehre für die Zukunft dem Gedächtnisse eingeprägt werde. Christi Lehre aber „sollte in Ewigkeit nicht vergehen, wenn auch Himmel und Erde vergingen“ (Luk. 21.). Also mußte sie schriftlich niedergelegt werden. II. Das Alte Gesetz war die Figur, „der Schatten der künftigen Güter“ (Hebr. 10.). Das Alte Gesetz aber ward von Gott geschrieben, nach Exod. 24.: „Ich werde dir zwei steinerne Tafeln geben und das Gesetz und die Gebote habe ich darauf geschrieben.“ Also mußte auch Christus sein Gesetz niederschreiben. III. Christus, der gekommen war, „zu erleuchten jene, die in der Finsternis und im Todesschatten sitzen,“ mußte die Gelegenheiten des Irrtums abschneiden. Das aber wäre am besten geschehen durch das Niederschreiben seiner Lehre. Denn Augustin sagt (1. de cons. Evgl. 7.): „Manche stoßen sich daran, daß Christus selber nichts aufgeschrieben hat, so daß man nun anderen glauben muß, die über Ihn geschrieben haben. Danach fragen zumal jene Heiden, welche nicht wagen, den Herrn zu beschuldigen oder Ihn zu lästern und die Ihm, freilich als einem Menschen, eine überaus hervorragende Weisheit zuschreiben; die Jünger, so sagen sie, hätten mehr aus Christo gemacht wie die Wirklichkeit war, da sie Ihn „das Wort Gottes“ nannten, durch das Alles hergestellt worden … Sie scheinen bereit, diese Heiden, das von Ihm zu glauben, was Er selbst von Sich geschrieben hätte; sie wollen aber nicht glauben, was andere nach Willkür über Ihn geschrieben haben.“ Auf der anderen Seite existieren von Christo keine Bücher im Kanon.
b) Ich antworte; es war nicht zukömmlich, daß Christus seine Lehre schriftlich niederlegte: 1. Wegen seiner Würde. Denn je ausgezeichneter ein Lehrer ist, eine desto ausgezeichnetere Art und Weise zu lehren gebührt ihm. Christo, dem ausgezeichnetsten Lehrer also, gebührte die ausgezeichnetste Lehrweise, nämlich daß Er seine Lehre den Herzen selber der Jünger einpräge. Deshalb heißt es Matth. 7.: „Er lehrte wie einer der Gewalt hat.“ Auch bei den Heiden haben die hervorragendsten Lehrer, Pythagoras und Sokrates, nichts schriftlich hinterlassen. Die Schrift nämlich ist nur ein entfernteres Mittel, um die Lehre den Herzen der Hörer einzuprägen; während das mündliche Wort unmittelbar dies thut. 2. Wegen der hervorragenden Bedeutung der Lehre Christi, welche durch die Schrift nicht genügend ausgedrückt werden kann, nach Joh. ult.: „Noch vieles Andere that Jesus, was nicht hier aufgeschrieben ist; denn wollte man dies Alles aufschreiben, so möchte wohl die ganze Welt die Bücher nicht fassen können,“ „das ist nicht so zu verstehen,“ sagt Augustin (tract. ult. in Joan.), „als ob der Raum in der Welt dafür nicht genügend sei, sondern weil die Fassungskraft der lesenden nicht hinreichen würde, um alles da Aufgeschriebene zu begreifen.“ Hätte nun Christus seine Lehre niedergeschrieben, so würden die Menschen meinen, Er hätte nichts Anderes gelehrt als was da geschrieben steht. 3. Wegen der geordneten Mitteilung seiner Lehre von dem einen zum anderen. Denn seinen Schülern hat Er unmittelbar gelehrt und diese haben dann das Gehörte in Wort und Schrift anderen gelehrt. Würde Er selbst aber geschrieben haben, so würde unmittelbar seine Lehre zu allen gekommen sein. Darum heißt es auch Prov. 9.: „Die Weisheit sandte ihre Mägdelein, damit sie zur Arche riefen.“ Dabei muß man wissen, daß nach Augustin (l. de cons. Evgl. 9 et 10.) manche Heiden meinten, Christus habe einige Bücher geschrieben, welche Regeln der Magie enthalten hätten, wie man Wunder wirken könne etc.; — was jedoch von der christlichen Wahrheit verworfen wird: „Und jene nun, welche der Meinung sind, sie hätten solche Bücher Christi gelesen, vollbringen doch nicht Ähnliches, wie sie mit Verwunderung meinen, daß Christus kraft solcher Formeln gethan habe. Der göttliche Ratschluß erlaubt es, daß sie in dieser Weise irren; sie meinen nämlich, diese Bücher trügen auf dem Titel die Namen Petrus und Paulus, seien aber vom Herrn selbst an diese beiden in Form von Briefen gesandt worden; denn sie sahen an mehreren Orten diese beiden zusammen gemalt mit Christo. Fürwahr; es ist nicht zu wundern, daß von den Malern getäuscht worden sind jene, die getäuscht werden wollten; denn während der ganzen Zeit daß der Herr im Fleische wandelte und mit seinen Jüngern verkehrte, war Paulus noch nicht sein Jünger.“
c) I. Augustin antwortet (c. ult.): „Von allen seinen Jüngern, als seinen Gliedern, ist Christus das Haupt. Wenn also jene geschrieben haben, was Er gethan und gesprochen hat, so kann man nicht sagen. Er hätte dies nicht geschrieben. Denn die Glieder haben das hingesetzt, was das Haupt diktierte und was sie so erkannten. Was Jener nämlich wollte, daß wir von seinen Worten und Thaten kennen lernen sollen, das hat Er diesen, als ob sie seine Hände wären, geboten, daß sie es niederschrieben.“ II. Das Alte Gesetz wurde in sinnlich wahrnehmbaren Figuren und Bildern gegeben; und sonach wurde es auch zukömmlicherweise in sinnlich wahrnehmbaren Zeichen niedergeschrieben. Die Lehre Christi aber, welche „das Gesetz des Geistes des Lebens“ ist, wurde geschrieben „nicht mit Tinte, sondern mit dem Finger des lebendigen Gottes; nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf die Tafeln von Fleisch des menschlichen Herzens,“ wie Paulus 2. Kor. 3. sagt. III. Wer den Schriften der Apostel nicht glaubt, hätte auch der Schrift Christi selber nicht geglaubt.
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