15.
Ich möchte euer Gnaden eine Frage vorlegen. Wie kommt es, daß eine Seele, der der Herr so erhabene Gnaden wie die der vollkommenen Beschauung zu erweisen beginnt, nicht sogleich ganz vollkommen ist? Dies sollte man ja doch billigerweise erwarten. Denn billig ist es fürwahr, daß, wer einmal eine so große Gnade empfangen hat, keine irdischen Tröstungen mehr verlange. Warum treten aber, wie es scheint, an der Seele die Wirkungen der Verzückungen nur nach dem Maße hervor, als die Seele an den Empfang dieser Gnaden gewöhnt ist, und warum schreitet sie nur nach dem Grade dieser Wirrungen in der Losschälung voran? Der Herr könnte ja die Seele, wenn er sie heimsucht, gleich auf einmal heilig machen, wie er dies in der Folge dadurch tut, daß er sie allmählich in den Tugenden vervollkommnet. Dies möchte ich gern erfahren, denn ich weiß es nicht. Doch weiß ich wohl, daß zwischen der Stärke, die der Herr der Seele am Anfang verleiht, wo die erteilte Gnade nur einen Augenblick währt und fast nur aus den zurückbleibenden Wirkungen erkannt wird, und zwischen der Stärke, die die Seele empfängt, wenn diese Gnade länger dauert, ein Unterschied ist. Ich denke mir oft, ob dies nicht etwa darum geschehe, weil die Seele sich nicht gleich vollständig bereitet; deshalb muß der Herr selbst sie erst allmählich heranziehen, bis er ihr endlich den Entschluß und mannhafte Stärke verleiht, alles, was sie an der Erreichung der Vollkommenheit hindert, gänzlich abzuwerfen, wie er es bei Magdalena in kurzer Zeit zuwege gebracht hat. Bei anderen wirkt der Herr in dem Maße, wie sie ihn in sich wirken lassen. Leider glauben wir noch nicht recht, daß Gott schon in diesem Leben hundert gibt für eins.
