6.
Ich will euch aber noch ein anderes Mittel sagen. Wenn es uns scheint, der Herr habe uns schon eine Tugend verliehen, so müssen wir wohl bedenken, daß sie ein von ihm empfangenes Gut ist, das er uns wieder nehmen kann, wie es in der Tat nicht ohne Gottes große Vorsehung oftmals auch geschieht. Habt ihr, meine Schwestern, dies noch nicht an euch erfahren? Ich wohl. Manchmal meine ich ganz losgeschält zu sein von allem; und kommt es zur Probe, so bin ich es auch. Aber ein anderes Mal finde ich mich so eingenommen, und zwar von Dingen, deren ich tags zuvor vielleicht gespottet hätte, daß ich fast mich selbst nicht mehr kenne. Zuweilen kommt es mir vor, als hätte ich großen Mut und als gebe es im Dienste des Herrn nichts, wovor ich zurückschrecken würde; und so habe ich es auch in der Tat öfters an mir gefunden. Da kommt aber wieder ein anderer Tag, an dem ich nicht einmal so viel Mut in mir fühle, um Gottes Willen auch nur eine Ameise zu töten, wenn etwas wider meinen Willen wäre. So scheint mir manchmal auch, ich würde eine üble Nachrede oder Verleumdung nicht beachten, vielmehr mich darüber freuen; dies erweist sich öfters als Wahrheit. Aber andere Tage kommen, an denen mich schon ein einziges Wort betrübt und mir alles so zuwider zu sein scheint, daß ich aus der Welt laufen möchte. Doch nicht ich allein bin es, die solche Erfahrungen gemacht hat; ich habe das gleiche auch bei vielen anderen Personen gefunden, die besser sind als ich, und weiß also, daß es wirklich so geht.
