23. Kap. Das Leben des Apostels Johannes.
Damals1 lebte noch in Asien der Apostel und Evangelist Johannes, den Jesus liebte,2 und leitete die dortigen Gemeinden, nachdem er nach dem Tode des Domitian von der Insel zurückgekehrt war, auf die man ihn verbannt hatte. Die Tatsache, daß Johannes in den Tagen des Trajan3 noch am Leben war, wird durch zwei Zeugen genügend bestätigt. Dieselben dürften glaubwürdig sein, da sie für die kirchliche Orthodoxie eingetreten sind. Es sind Irenäus und Klemens von Alexandrien. Der erstere schreibt im zweiten Buche seiner Schrift „Gegen die Häresien“ wörtlich also:4 „Alle Presbyter, welche in Asien mit Johannes, dem Jünger des Herrn, beisammen gewesen waren, bezeugen, daß Johannes so gelehrt habe. Denn er lebte noch bei ihnen bis zu den Zeiten Trajans.“ Im dritten Buche des gleichen Werkes gibt Irenäus denselben Gedanken also wieder:5 „Auch die von Paulus gegründete Kirche in Ephesus, in welcher Johannes bis zu den Zeiten Trajans lebte, ist eine wahrheitsgemäße Zeugin der apostolischen Überlieferung.“ In seiner Schrift „Welcher Reiche wird selig werden?“ macht Klemens die gleiche Zeitangabe und erzählt noch eine Geschichte, welche besonders für diejenigen bestimmt ist, die das Schöne und Nützliche gerne hören. Nimm auch des Klemens Schrift zur Hand! Dort liesest du:6 „Vernimm ein Geschichtchen! Doch nein, kein Geschichtchen, sondern wirkliche Geschichte. Sie handelt von Johannes, dem Apostel. Sie ist der Tradition entnommen und steht historisch fest.7 Als S. 127 Johannes nach dem Tode des Tyrannen von der Insel Patmos nach Ephesus zurückgekehrt war, besuchte er auf Wunsch auch die umliegenden Gegenden, um entweder Bischöfe einzusetzen oder ganze Gemeinden einzurichten oder aus den vom Geiste bezeichneten Männern einen einheitlichen Klerus aufzustellen. Nachdem er nun nach Ankunft in einer nicht ferngelegenen Stadt, deren Namen einige wissen wollen, zunächst die Brüder getröstet hatte, erblickte er schließlich einen jungen Menschen von schönem Körperbau, vornehmer Haltung und feurigem Gemüte. Das Auge auf den Bischof gerichtet, sagte Johannes: ‚Diesen Menschen empfehle ich dir von ganzem Herzen und rufe die Gemeinde und Christus zu Zeugen an.’ Der Bischof nahm den jungen Menschen zu sich und versprach alles; Johannes aber wiederholte seine Worte unter Anrufung der gleichen Zeugen. Sodann kehrte dieser nach Ephesus zurück; der Presbyter8 aber nahm den ihm empfohlenen Jüngling in sein Haus auf, erzog ihn, beschützte ihn, pflegte ihn und erteilte ihm schließlich die Taufe. Sodann ließ er in seiner großen Sorgfalt und Wachsamkeit etwas nach, da er ihm das letzte Schutzmittel, das Siegel des Herrn, gespendet hatte. Der Jüngling, zu früh die Freiheit genießend, geriet in die verderbliche Gesellschaft einiger müßiger, liederlicher und an das Böse gewöhnter Altersgenossen. Zunächst gewannen sie ihn durch reiche Schmaußereien, dann nahmen sie ihn auch mit, wenn sie nachts auf Diebstahl ausgingen; schließlich verlangten sie von ihm noch Schlimmeres. Der Jüngling gewöhnte sich allmählich an diese Dinge, und lebhaft wie er war, wandte er sich gleich einem wilden, feurigen Pferde vom rechten Wege ab, biß in die Zügel und stürzte ungestüm in den Abgrund. Da er den Glauben an die Erlösung in Gott endgültig aufgegeben hatte, sann er nicht mehr nur auf kleine Sünden. Er verlangte, da er nun doch verloren sei, nach großen Vergehen und nach dem S. 128 gleichen Schicksal, das den anderen drohte. Er gründete mit Hilfe seiner Altersgenossen eine Räuberbande, von welcher er gerne als der Gewalttätigste, Blutdürstigste und Schlimmste den Hauptmann machte. Nach einiger Zeit wurde Johannes aus irgendeinem Anlaß wieder (in die Stadt) gerufen. Nachdem er die Geschäfte, derentwegen er gekommen war, erledigt hatte, sagte er: ‚Wohlan, o Bischof, gib mir zurück, was ich dir anvertraut habe! Ich und Christus haben es dir übertragen, wofür die Kirche, der du vorstehst, Zeuge ist. Der Bischof erschrak zunächst, da er meinte, er sei wegen Gelder, die er nicht (anvertraut) erhalten hatte, angeklagt worden. Einerseits konnte er, da er ja (kein Geld) erhalten hatte, (den Worten) nicht glauben, anderseits durfte er aber auch dem Johannes nicht mißtrauisch begegnen. Als aber dieser erklärte: ‚Den Jüngling fordere ich zurück und die Seele des Bruders’, seufzte der Greis tief auf, weinte und sprach: ‚Er ist gestorben’. ‚Wie kam dies, und welchen Todes ist er gestorben?’ Der Bischof antwortete: ‚Er ist für Gott tot. Denn er ist ein schlimmer, verkommener Mensch und sogar ein Räuber geworden. Den Berg9 hat er nun gegen die Kirche eingetauscht und sich gleichgesinnten Kampfnaturen zugesellt.’ Da zerriß der Apostel sein Gewand, schlug sich unter lautem Klagen an den Kopf und rief: ‚Ich habe dich als Wächter über die Seele des Bruders zurückgelassen. Doch stelle man mir nun ein Pferd und einen Wegführer zur Verfügung!’ Und wie er war, ritt er von der Kirche weg zur Stadt hinaus. Als Johannes in den Bereich der Räuber gekommen war, wurde er von ihren Vorposten angehalten. Er floh nicht, noch bat er um Schonung, sondern rief: ‚Ich bin gekommen, weil ich euch wollte. Führet mich zu eurem Hauptmann!’ Dieser empfing ihn erst, nachdem er sich bewaffnet hatte. Als er aber in dem Ankömmling den Johannes erkannte, wandte er sich scheu zur Flucht. Johannes aber, sein hohes Alter vergessend, lief ihm S. 129 eiligst nach und schrie: ‚Mein Sohn, warum fliehst du vor mir, deinem Vater, einem wehrlosen Greise? Erbarme dich meiner, o Sohn! Fürchte dich nicht! Immer noch bleibt dir die Hoffnung auf das Leben. Ich will für dich bei Christus eintreten. Wenn es notwendig ist, gehe ich gerne für dich in den Tod, wie der Herr für uns in den Tod gegangen ist. Für dich will ich mein Leben hingeben. Halte! Glaube! Christus hat mich gesandt.’ Als der Räuber diese Worte hörte, blieb er zunächst mit gesenktem Blicke stehen. Dann warf er die Waffen weg und vergoß zitternd bittere Tränen. Er umarmte den Greis, der vor ihm stand, entschuldigte sich, so gut er konnte, unter Seufzern und empfing durch seine Tränen eine zweite Taufe. Nur seine rechte Hand hielt er verborgen, Johannes aber verbürgte sich unter Eid dafür, daß er für ihn beim Erlöser Verzeihung erlangt habe, drang mit Bitten in ihn, fiel vor ihm auf die Knie nieder und küßte ihm die rechte Hand, um zu zeigen, daß sie durch seine Reue gereinigt wäre. Dann führte er ihn zur Kirche zurück. In ständigen Gebeten flehte er um Begnadigung, durch andauerndes Fasten machte er sich zu seinem Kampfgenossen, und durch zahlreiche gewinnende Worte besänftigte er sein Gemüt. Er verließ ihn, wie man erzählt, nicht eher, als bis er ihn der Kirche wiedergegeben und ein herrliches Beispiel wahrer Buße, ein schönes Denkmal der Wiedergeburt, ein Siegeszeichen der sichtbaren Auferstehung aufgestellt hatte.“