Erster Artikel. Das Genießen ist eine Thätigkeit des Begehrungsvermögens.
a) Dem steht entgegen: I. Genießen heißt die Frucht ergreifen. Die Frucht des menschlichen Lebens aber, nämlich die ewige Seligkeit, ergreift der Verstand. (Vgl. Kap. 8, Art. 8.) Genießen also eignet dem Verstande zu. II. Die Frucht eines jeden Vermögens ist der Besitz des ihm entsprechenden Zweckes, also seine Vollendung; wie der Zweck des Auges ist das Sehen, des Ohres das Hören. Genießen also kommt jedem Vermögen zu. III. Genießen bedeutet ein gewisses Ergötzen. Das sinnliche Ergötzen aber gehört dem Sinne an, der sich an seinem Gegenstande ergötzt und ebenso gehört das vernünftige Ergötzen der Vernunft an. Genießen also eignet dem auffassenden Vermögen zu. Auf der anderen Seite sagt Augustin (10. de Trin. 10.): „Genießen will sagen einem Dinge anhängen, es lieben um dieses Dinges selber willen.“ Die Liebe aber ist eigen dem Begehrvermögen; also desgleichen das Genießen.
b) Ich antworte, Genießen habe zum Gegenstande die Frucht. Von Früchten aber sind uns am bekanntesten die sinnlich wahrnehmbaren. Was also da, im Bereiche des Sinnlich-Wahrnehmbaren, mit dem Ausdrucke „Frucht“ bezeichnet wird, das wird für die Bedeutung des letzteren maßgebend sein. Die sinnlich wahrnehmbare Frucht nun ist das, was an letzter Stelle vom Baume her erwartet wird und was eine gewisse Annehmlichkeit mit sich bringt. Also gehört das Genießen der Liebe an oder dem Ergötzen, was jemand hat an dem als schließliches Ergebnis Erwarteten, d. h. am Zwecke. Das Gute oder Ergötzliche aber und der Zweck ist Gegenstand des Begehrvermögens. Also ist Genießen eine Thätigkeit des Begehrvermögens.
c) I. Ein und dasselbe kann ganz wohl unter verschiedenen Gesichtspunkten verschiedenen Vermögen zugehören. Die Anschauung Gottes selber also, insoweit sie Anschauung ist, gehört der Vernunft an; insoweit sie aber ein Gut und der Zweck ist, erscheint sie als Gegenstand des Willens und somit ist Genießen eine Thätigkeit des Willens. Und diesen Zweck erreicht die Vernunft als das thätigseiende Vermögen, der Wille als das zum Zwecke hin bewegende und des erreichten Zweckes genießende Vermögen. II. Die Vollendung und der Zweck eines jeden anderen Vermögens ist eingeschlossen im Gegenstande des Begehrvermögens wie das Besondere, Einzelne im entsprechenden Allgemeinen. Insofern also die Vollendung und der Zweck eines jeden Vermögens ein gewisses Gut ist, so gehört dies dem Begehrvermögen an; deshalb bewegt das Begehrvermögen alle anderen Vermögen in deren entsprechender Zweckrichtung zu ihrer Vollendung hin und es selbst erreicht dadurch eben den Zweck, daß alle anderen Vermögen ihn erreichen. III. Im Ergötzen findet sich zweierlei: 1. Das Ergreifen des Zukömmlichen — und dies gehört dem auffassenden Vermögen an; 2. das Wohlgefallen in diesem Zukömmlichen — und das gehört dem Begehrvermögen an, in welchem der Grund des Ergötzens sich vollendet.
