22. Thalassius und Limnäus
S. 147 In unserer Nähe liegt das Dorf Tillima, das früher den Samen der Gottlosigkeit Markions aufgenommen hatte, jetzt aber der evangelischen Bebauung sich erfreut. Südlich davon erhebt sich ein Hügel, nicht sehr unwirtlich und nicht sehr steil. Auf diesem erbaute sich eine Einsiedelei der wundervolle Thalassius, ein Mann, reich mit Tugend geschmückt und an Schlichtheit, Sanftmut und Bescheidenheit seine Zeitgenossen übertreffend. Das sage ich nicht bloß vom Hörensagen, sondern aus eigener Erfahrung heraus. Denn ich suchte den Mann auf und erfreute mich oft seines süßen Umgangs.
In seine Genossenschaft fand Aufnahme der jetzt von allen gepriesene Limnäus, der in jungen Jahren diesen Kampfplatz erwählte und sich trefflich in die höchste Vollkommenheit einführte. Und da er wohl wußte, wie leicht mit der Zunge gefehlt werde, machte er sich, ein Knabe noch, völliges Schweigen zum Gesetze. So lebte er lange Jahre, ohne mit Menschen ein Wort zu wechseln. Nachdem er genügend die Lehren des gottseligen Greises in sich aufgenommen hatte und ein Abbild seiner Tugend geworden war, kam er zu dem großen Maron, von dem wir früher berichtet haben. Er traf gleichzeitig mit dem göttlichen Jakobus ein. Nachdem er auch davon großen Nutzen gezogen, sehnte er sich nach dem Leben unter freiem Himmel und bezog einen anderen Berggipfel, zu dessen Füßen ein Dorf liegt, Targala genannt. Hier lebt er bis zum heutigen Tage, ohne Haus, ohne Zelt, ohne Hütte, lediglich von einer Umfriedung beschützt, die aus Steinen ohne Mörtelverbindung aufgeschichtet war. Sie hat eine kleine Türe, die ständig mit Lehm verschlossen ist. Kein Ankömmling darf sie öffnen. Mir allein gestattet er, dies zu tun, wenn ich ihn besuche. Darum laufen die Leute von allen Seiten zusammen, wenn sie von meiner Ankunft Kunde erhalten, um mit mir einzutreten. Mit denen, die sonst zu ihm kommen, spricht er durch ein kleines Fenster, gibt ihnen den Segen und schenkt damit gar vielen die Gesundheit. Denn durch den Namen des Herrn heilt er Krankheiten, treibt Teufel aus und ahmt die apostolischen Wunder nach.
S. 148 Nicht bloß über Fremde, welche zu ihm kommen, ergießt er Heilung, er gab sie wiederholt auch dem eigenen Körper. So hatte ihn früher einmal die Kolik befallen. Die Schmerzen und Qualen, die diese Krankheit im Gefolge hat, kennen jene genau, welche das Leid am eigenen Leibe erfahren. Aber auch die wissen davon zu erzählen, welche nur Zuschauer gewesen. Die Kranken wälzen sich wie Rasende, drehen sich dahin und dorthin, strecken die Füße aus und ziehen sie ein. Bald sitzen sie, bald stehen sie auf und gehen hin und her, lauter Versuche, etwas Ruhe zu finden. So eilen sie oft auch zu den Bädern, hier einige Erleichterung sich erholend. Doch wozu weitläufig aufzählen, was allen bekannt und offenkundig ist?
Wenn er mit diesem Leiden zu kämpfen hatte und von solchen Schmerzen gequält wurde, wandte er keine ärztliche Hilfe an. Er duldete kein Bett, verstattete sich keine Erquickung durch Arzneien oder in Speisen, sondern suchte die Heilung auf einem Brette am Boden sitzend im Gebete und im Zeichen des Kreuzes. Der Name Gottes war das Zaubermittel, durch das er die Schmerzen bannte.
Ein andermal wandelte er des Nachts hin und her und trat auf eine schlafende Schlange. Das Untier faßte ihn an der Sohle und verbiß sich darin. Da er den Fuß zu befreien suchte und sich bückte, um die Hand an die Stelle zu bringen, stieß er damit gerade in den Rachen des Reptils. Und da er mit der Linken der Rechten zu Hilfe kommen wollte, zog er auch auf diese die Wut des Tieres. Nachdem es sich beruhigt ― es hatte ihm mehr als zehn Wunden beigebracht ―, ließ es von ihm ab und zog sich in seinen Schlupfwinkel zurück. Er aber wurde allseitig von bitteren Schmerzen befallen. Aber auch da verschmähte er die ärztliche Kunst und führte den Wunden nur die Heilmittel des Glaubens zu: das Kreuzeszeichen und das Gebet und die Anrufung Gottes. Darum, glaube ich, ließ der Gott des Alls auch zu, daß das Untier gegen den heiligen Leib wütete, um allen den Starkmut jener göttlichen Seele klar zu zeigen. Wir sehen ja die gleiche Absicht auch in der Geschichte des edlen Job. Er fügte, daß S. 149 viele und mannigfache Wogen ihn umtosten, weil er die Weisheit des Steuermannes allen zeigen wollte. Denn wie könnten wir die Mannhaftigkeit und die Geduld beider kennen lernen, wenn nicht der Feind aller Frömmigkeit Gewalt bekommen hätte, mannigfache Geschosse auf sie zu richten?
Die standhafte Geduld des Mannes darzutun, reicht das Gesagte hin. Von einer anderen Seite her wollen wir seine Menschenfreundlichkeit kennen lernen. Viele des Augenlichtes Beraubte, die zu betteln gezwungen waren, versammelte er um sich, baute ihnen gegen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang Wohnungen und hieß sie darin ruhen und Gott preisen und trug denen, die zu ihm kamen, auf, ihnen die nötige Nahrung zu reichen. Er selbst lebt in ihrer Mitte in seiner Umfriedung und ermuntert die einen wie die andern zum Psalmengesang, und man hört sie unablässig den Herrn loben. Eine solche Liebe erweist er ohne Unterlaß seinen Mitmenschen.
Die Zeit seines Aufenthaltes unter freiem Himmel deckt sich mit der des großen Jakobus. Sie dauert nun bereits achtunddreißig Jahre.
