29. Marana und Kyra
Nachdem ich das Leben trefflichster Männer beschrieben, halte ich es für angemessen, auch der Frauen zu gedenken, die nicht weniger tapfer, vielleicht sogar tapferer gekämpft haben. Sie verdienen noch größeres Lob, da sie bei schwächerer Natur denselben Eifer wie die Männer zeigen und ihr Geschlecht von der ererbten Schmach der Stammutter reinigen.
Hier will ich der Marana und der Kyra gedenken, die in ihren Kämpfen an Starkmut alle anderen übertroffen haben. Ihr Vaterland ist Beröa. Sie entstammen vornehmem Geschlechte und erhielten eine dementsprechende Erziehung. Aber dies alles mißachteten sie. Sie friedeten einen kleinen Platz vor der Stadt ein. Darin nahmen sie Wohnung und verschlossen den Eingang mit Lehm und Steinen. Für Mägde, die mit ihnen diese Lebensweise teilen wollten, ließen sie außerhalb des Geheges eine bescheidene Herberge bauen und hießen sie da einziehen. Durch ein kleines Fenster S. 175 beobachten sie ihr Tun, ermuntern sie häufig zum Gebete und entzünden in ihnen die Liebe Gottes.
Sie selbst haben kein Haus, keine Hütte, sondern leben unter freiem Himmel. Statt der Türe ist eine kleine Fensteröffnung in die Umfriedungsmauer gebrochen, durch welche sie die nötige Nahrung empfangen und mit den Frauen, die zu ihnen kommen, sich unterhalten. Festgesetzt für diesen Verkehr ist die Pfingstzeit. Das übrige Jahr verbringen sie in voller Abgeschiedenheit. Nur Marana redet mit den ankommenden Pilgerinnen. Die andere hat kein Mensch je sprechen hören. Sie schleppen Eisen, und das in solcher Last, daß es Kyra, die von schwächlicher Statur ist, bis zum Boden niederzieht und sie nicht imstande ist, den Körper aufzurichten. Beide tragen weite Mäntel, die den Rücken herunterfallen und peinlich die Füße decken und auf der Vorderseite bis zum Gürtel reichen und Gesicht, Nacken, Brust und Arme vollständig verhüllen.
Oftmals habe ich sie innerhalb jenes Einganges gesehen, den sie aus Verehrung gegen die priesterliche Würde aufbrechen ließen. Da gewahrte ich denn jene Eisenlast, die kaum ein starker Mann zu tragen vermag. In dringlichen Vorhalten setzte ich durch, daß sie für den Augenblick das Gewicht abnahmen. Aber nach meiner Entfernung legten sie es wieder an ihre Glieder. Der Nacken trägt ein Halseisen, die Hüften einen Gürtel. Auch die Hände und Füße haben ihren Teil. So leben sie, nicht etwa fünf oder zehn oder fünfzehn Jahre, sondern bereits zweiundvierzig Jahre. Und trotz dieser langen Kampfzeit verlangen sie, als ob sie erst begännen, nach neuen Mühen. Denn da sie die Schönheit des Bräutigams vor Augen haben, ertragen sie gar bereitwillig und leicht die Anstrengung des Wettlaufes und beeilen sich, an das Kampfziel zu kommen, wo sie den Geliebten stehen sehen, der ihnen den Siegeskranz zeigt. So nehmen sie hin die Unbill von Regen und Schnee und Hitze. Kein Mißmut und kein Schmerzgefühl. Die scheinbaren Peinen sind ihnen Trostquelle.
Auch das Fasten des erhabenen Moses ahmten sie nach und verbrachten dreimal dieselbe Zeitspanne wie er ohne Nahrung, nach vierzig Tagen erst ein bescheiden S. 176 Mahl genießend. Desgleichen wetteiferten sie dreimal mit der Entsagung des göttlichen Daniel und harrten drei Wochen aus, ehe sie dem Körper Speise verstatteten.
Im Verlangen, die heiligen Orte der heilbringenden Leiden Christi zu sehen, reisten sie einmal nach Aelia1, ohne auf dem Wege dorthin Speise zu sich zu nehmen. Erst nach der Ankunft in der Stadt und nach Verrichtung ihrer Andacht aßen sie. Den Rückweg legten sie ebenfalls ohne Nahrungsaufnahme zurück. Man zählt aber dorthin nicht weniger als zwanzig Stationen. Auch das Heiligtum der siegreichen Thekla in Isaurien begehrten sie zu besuchen, um den Brand der göttlichen Liebe von allen Enden her anzuzünden. Ohne Nahrung gingen sie dahin und kehrten ebenso zurück.
In solchem Maße bezauberte sie die göttliche Liebe, solche Glut entfachte in ihnen die himmlische Begierde nach dem Bräutigam. Durch diese Lebensführung zieren sie das weibliche Geschlecht und sind Vorbilder für andere und werden mit Siegeskränzen vom Herrn belohnt werden. Nachdem ich den Nutzen, der hieraus fließt, gezeigt und den Segen geerntet habe, gehe ich zu einer anderen Erzählung über.
Name Jerusalems seit der Herstellung der Stadt durch Aelius Hadrianus. ↩
