27. Baradatus
Der gemeinsame Feind der Menschen hat viele Wege der Bosheit ausfindig gemacht, um das ganze Geschlecht dem vollen Verderben zu überliefern. Aber die Kinder der Frömmigkeit haben auch viele und mannigfache Leitern für den Aufstieg in den Himmel ausgedacht. Die einen kämpfen in Gemeinschaft. Solcher Klöster gibt es viele Tausende; man kann sie kaum zählen. Dort gewinnen die Streiter unvergängliche Kronen und erlangen den ersehnten Aufstieg. Andere erwählen das Einsiedlerleben und sind bedacht, nur mit Gott sich zu unterhalten. Sie verschmähen jeden menschlichen Trost und erringen so den Sieg. Andere lobpreisen Gott, indem sie in Zelten und Hütten wohnen, wieder andere vollbringen ihr Leben in Löchern und Höhlen. Viele ― ich habe des einen oder andern gedacht ― verstehen sich nicht einmal zum Besitze einer Höhle oder eines Zeltes oder einer Hütte, sondern setzen ihren Leib der freien Luft aus und ertragen die wechselnden Unbilden der Witterung. Bald erstarren sie in äußerster Kälte, bald brennen sie unter der Sonne sengendem Strahl. Und auch die Lebensweise dieser Männer ist wieder verschieden. Die einen stehen ohne Unterbrechung. Die anderen verteilen den Tag auf Sitzen und Stehen. Die einen haben sich in Mauern verschlossen und vermeiden den Verkehr mit Menschen. Andere verzichten auf solche Abschließung und stehen frei da für alle, die sie sehen wollen.
S. 171 Diese Kampfweisen glaubte ich im einzelnen aufzählen zu sollen, da ich jetzt das Leben des wundervollen Baradatus zu schreiben unternehme. Denn dieser ersann ganz neue Verfahren zur Betätigung des Starkmutes.
Zuerst schloß er sich für längere Zeit in eine Hütte ein und wollte nur göttlichen Trostes sich erfreuen. Von da erstieg er den darüberliegenden Bergrücken und zimmerte sich einen Kasten aus Holz. Er war wenig geräumig und stand mit seinem Körpermaße nicht in Einklang. Ihn wählte er zur Wohnung, mußte aber dabei stetig eine gebückte Haltung einnehmen. Denn die Kastenhöhe entsprach nicht der Länge seines Leibes. Auch war der Kasten nicht ein geschlossenes Gefüge aus Brettern. Seine Wände wiesen gitterartige Öffnungen auf und glichen Fenstern mit recht breiten Lichtlöchern. Und so bot er nicht Schutz vor strömendem Regen noch Deckung gegen sengende Hitze. Beides duldete er wie die Streiter unter freiem Himmel. Er überbot sie aber noch an Strapaze, weil er eingeschlossen war. Nachdem er auf diese Weise lange Zeit gelebt, gab er den dringenden Vorstellungen des gottseligen Theodotus, des Bischofs von Antiochien, nach und ging aus dem Kasten heraus. Er steht nun beständig, die Hände zum Himmel erhoben und den Gott des Alls preisend. Sein Körper ist ganz in ein Kleid von Fellen eingehüllt, nur um die Nase und den Mund hat er eine kleine Öffnung für den Odem gelassen, um die gemeinsame Luft einzuatmen, da es der menschlichen Natur sonst nicht möglich ist, zu leben. Und alle diese Mühen erduldet er, trotzdem er keinen starken Körper besitzt, sondern von vielen Krankheiten heimgesucht ist. Aber der feurige Eifer, von der göttlichen Liebe entzündet, befähigt ihn, zu tragen, was der Leib nicht tragen kann.
Sein Geist zeichnet sich durch großen Scharfsinn aus. Treffend sind seine Fragen und Antworten und seine Schlüsse nicht selten bündiger und zwingender als die Syllogismen von Leuten, welche die Aristotelischen Labyrinthe studiert haben. Obgleich auf dem Gipfel der Vollkommenheit angelangt, gestattet er seinen Gedanken keine Überhebung, sondern befiehlt ihnen, auf S. 172 dem Boden zu kriechen, unten am Fuße des Berges zu verbleiben. Denn er weiß gar wohl, welchen Schaden eine vom Stolze aufgeblähte Gesinnung stiftet.
Das ist in Kürze die Lebensweisheit dieses Mannes. Möge sie immer noch wachsen und ihn zum Ziele seines Laufes führen! Der Ruhm dieser Sieger ist die Freude aller Frommen. Mir aber möge es mit Hilfe ihrer Gebete vergönnt sein, von diesem Berge nicht allzuweit entfernt zu bleiben, sondern allmählich ihn zu ersteigen und des Anblicks jener Helden mich zu erfreuen!
