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Geliebteste! Die Dinge, die sich auf das Geheimnis der heutigen Festfeier beziehen, sind euch zwar bekannt und schon oft von euch vernommen worden, aber geradeso, wie das sichtbare Licht ungeschwächten Augen angenehm ist, so bereitet auch die Geburt des Erlösers, von der wir nie schweigen dürfen, wenn wir sie auch nicht nach Gebühr zu erklären vermögen, gesunden Herzen S. 87immer Freude. Glauben wir doch, daß der Ausspruch: „Wer wird seine Geburt erzählen?“1 nicht allein auf jenes Geheimnis Bezug hat, wodurch der Sohn Gottes ebenso ewig wie der Vater ist, sondern auch auf seine Geburt, die wir jetzt feiern, durch die „das Wort Fleisch geworden ist“2 . Daher wählte sich Gott, der wesensgleiche Sohn Gottes, der vom Vater und m i t dem Vater dieselbe Natur hat, der Schöpfer und Herr des Weltalls, der überall ganz zugegen ist, und den doch alles nicht ganz zu fassen vermag, aus der Folge der Zeiten, die nach seiner Anordnung ihren Lauf vollenden, diesen Tag aus, an welchem er zum Heile der Welt von der seligen Jungfrau Maria unter völliger Wahrung der Keuschheit seiner Mutter geboren werden wollte. Wie nämlich die Jungfräulichkeit dieser durch den Akt der Geburt unverletzt blieb, so war sie auch durch die Empfängnis nicht befleckt worden, „damit“, wie der Evangelist sagt, „das Wort des Herrn in Erfüllung ging, der durch den Mund des Propheten Isaias sprach: Siehe, eine Jungfrau wird in ihrem Schoße empfangen und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Emanuel geben, was verdolmetscht heißt: Gott mit uns!“3 . Durch diese wunderbare Geburt hat die gottgeweihte Jungfrau in ihrem Kinde die „ eine “ wahrhaft göttliche und zugleich wahrhaft menschliche Person zur Welt gebracht. Haben doch die beiden Wesenheiten nicht in der Art ihre Eigentümlichkeiten behalten, daß hier eine Unterscheidung der Personen stattfinden könnte. Auch wurde das Geschöpf nicht in der Weise in die Gemeinschaft seines Schöpfers aufgenommen, daß dieser etwa der Bewohner und jenes nur sein Wohnsitz wäre, sondern so, daß sich die eine Natur mit der andern aufs innigste vereinte4 . Und mag auch ganz anders die Natur sein, die Aufnahme findet, ganz anders S. 88vollends jene, die Aufnahme gewährt, so verband sich doch der Unterschied beider zu so großer Einheit, daß es ein und derselbe Sohn ist, der sich mit Bezug darauf, daß er wahrer Mensch ist, geringer als der Vater nennt5 und sich mit Bezug darauf, daß er wahrer Gott ist, dem Vater gleich bezeichnet6
