Dreiundfünfzigster Vortrag: Über Ps 6,27
S. 287Dass der Wechselgesang, den wir heute mit den Bitten des Propheten gesungen haben, unserer Zeit entspricht, geeignet ist wegen unserer gegenwärtigen Notlage1 , sieht ein und erkennt mit mir eure Liebe. „Herr“, heißt es, „strafe mich nicht in deinem Grimme und züchtige mich nicht in deinem Zorne“2 . Schäumt denn etwa Gott vor Zorn? Glüht er denn etwa vor Wut? Das sei ferne, Brüder. Gott unterliegt nicht den Leidenschaften, glüht nicht vor Zorn, ist nicht ergrimmt vor Wut. Aber der Zorn Gottes ist eine Strafe der Sünder; die Wut Gottes ist das Strafgericht für die Sünder. Brüder! Wir, die wir aus Staub gebildet, aus Lehm zusammengesetzt sind3 , wir werden zertreten von den Lastern, wir unterliegen unter Verbrechen, wir reiben uns auf durch Sorgen, wir verzehren unsere Glieder, wir fallen dem Tode anheim, wir schaudern vor den furchterregenden Grabhöhlen, und so werden wir unfähig für die Tugend, wir werden nur noch für das Laster fähig erfunden. Der Prophet also, eingedenk der menschlichen Schwachheit, überzeugt von unserer fleischlichen Natur, nicht vertrauend seinen Verdiensten, eilt schnell zur helfenden Barmherzigkeit, damit das Gericht Gottes über ihn ergehe aus Liebe, nicht aber nach der Strenge [der Gerechtigkeit]. „Herr, in deinem Grimme strafe mich nicht!“ D. h. richte mich, aber nicht in deinem Zorne; strafe mich, aber nicht im Grimme! Richte mich als Vater, nicht als Richter; strafe mich als Erzeuger, nicht als Herr; richte mich, um mich zu strafen, nicht um mich zu verderben; S. 288strafe mich, um mich zu bessern, nicht um mich zu vernichten! Und warum dies alles? „Weil ich schwach bin.“ „Erbarme dich“, heißt es,„meiner, Herr, weil ich schwach bin“4 . Was ist schwächer als der Mensch, dessen Sinne trügen, dessen Unkenntnis täuscht, den das Gericht bedrängt, den der Luxus aufreibt, den die Zeit im Stich läßt5 , den das Alter ändert, den die Kindheit entkräftet, den die Jugendzeit6 hinabstürzt, den das Greisenalter zermalmt? Und wenn gegen diesen Gott zürnt in seinem Grimme und wütet in seinem Zorne, so ist das nicht das Werk der Liebe Gottes, sondern der Strenge des Richters! „Erbarme dich, Herr, meiner, denn ich bin schwach!
Und was soll er denn? “Herr, heile mich!„7 . Jener kennt seine wunde Lage, kennt den Biß der alten Schlange, den Fall der ersten Eltern; er weiß, dass [der Mensch] zu all diesem Elend gekommen ist durch seine Geburt; er weiß, dass er von Natur aus dem Tode verfallen ist8 . Und weil menschliche Kunst den Tod nicht fernhalten kann, ist er gezwungen, das Heilmittel Gottes zu erbitten. Damit er aber leichter die Rettung von seiner Krankheit erflehe, eröffnet er die Ursachen seiner Krankheit, schildert ihre Eigenschaften, legt ihre Größe dar, offenbart den gewaltigen Schmerz. “Herr, heile mich!„ Warum? “Weil meine Gebeine beben„9 . Die Gebeine tragen die ganze Struktur des Leibes. Und wenn die Gebeine erschüttert werden, wo bleibt dann die Festigkeit der Glieder? wo die Stärke der Nerven? wo die erbärmliche Natur des Fleisches? Die Glieder beben, Brüder, ob der Last der Sünden, wegen der Furcht vor dem Tode, ob des Schreckens vor dem Gerichte. Höre, wie der Prophet selbst an einer andern Stelle sagt: “Nichts bleibt unversehrt an meinem S. 289Leibe vor deinem Zorne; kein Friede ist in meinen Gliedern ob meiner Sünden„10 . Und wiederum: “Meine Seele ist erfüllt mit [trügerischen] Vorspiegelungen und nichts ist unversehrt an meinem Leibe„11
Mit Recht fügt er also hinzu: “Und meine Seele ist sehr bestürzt„12 . Hin und her schwankt sie zwischen den Geboten Gottes und den Leidenschaften des Herzens, zwischen Tugend und Laster, zwischen Glück und Unglück, zwischen Tod und Leben. Stets im Kampfesgewühl, ständig im Kriege, immer gewärtig der Wunden, selten aushaltend, dem Sinnenreiz unterliegend, wird die Seele verwirrt und gar sehr verwirrt. Denn das Fleisch, durch die Last der Sünden beschwert, wird noch eher gefangen, als es zur Tugend kommt. Diesen Kampf beschreibt der Apostel: “Das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch...,so dass ihr das nicht tut, was ihr wollt„13 . Und an einer andern Stelle: “Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetze meines Geistes widerstreitet und mich gefangen hält in dem Gesetze der Sünde„14 Indem also der Prophet diese Schwächen, diese Kämpfe, diese Geistesirrungen anführt, kommt er mit seiner Bitte zum Herrn: “Du aber, Herr, wie lange noch?„15 . D. h. wie lange säumst du noch? Wie lange noch entziehst du dich mir? Wie lange noch zögerst du, mir zu helfen? Wie lange noch willst du zulassen, dass dein Werk verwüstet, dein Bild zerstört, dein Geschöpf zugrunde gerichtet werde? Wozu ist denn dein Christus so oft angekündigt worden durch dein Gesetz, durch uns, durch deine Propheten so vielfach versprochen worden? Kommen möge er, ja kommen möge er, damit die Welt nicht vorher noch zugrunde gehe, damit er noch etwas in ihr finde, was er retten kann. Kommen möge er, ja kommen möge er, da mit er das Fleisch wiederherstelle, den Geist erneuere, die Natur selbst wieder umwandle in himmlische Art. Kommen möge er, damit er hinwegnehme die Sünde, den Tod vernichte, die Unterwelt zerstöre, S. 290das Leben wiedergebe, den Himmel uns schenke, damit nicht länger noch irdische Mühe uns bedrücken möge und uns schließlich ganz verderbe. So wollen wir mit dem Propheten beten, wie es die weiteren Worte uns lehren:
“Wende dich zu uns, Herr!„16 . Spricht so der Mensch zu Gott, der Angeklagte zum Richter, der Verurteilte zum Verurteiler? “Wende dich zu uns, Herr!„ Der Mensch sündigt und Gott soll sich bekehren? Ja, Brüder, Denn bei dem Propheten heißt es: “Er trägt unsere Sünden und leidet für uns„17 , und ebenso sagt der hl Johannes: “Seht das Lamm Gottes, welches die Sünden der Welt hinwegnimmt!18 . Er nahm die Sünde auf sich, nicht um sie zu haben19 , sondern um sie hinwegzunehmen. „Wende20 dich Herr!“ Woher? Wo? Von dem Gott zu dem Menschen, von dem Herrn zum Knecht, vom Richter zum Vater, damit diese Umwandlung dich als den liebvollen erweise, den die Macht als den Furchtbaren zeigte. „Wende dich, Herr; rette meine Seele“21 : von den Tiefen der Unterwelt. „Hilf mir um deiner Barmherzigkeit willen“22 , nicht wegen meines Verdienstes. Denn mich bedrängt die Mühe, mich verwunden die Seufzer, mich lösen auf die Tränen, mich verwirrt der Zorn, mich bekämpft der Feind. Damit aber dies noch klarer werde, möget ihr hören das Gebet des Propheten: „Hilf mir um deiner Barmherzigkeit willen!“ Warum? „Denn niemand ist, der im Tode deiner gedenkt; im Todesreiche aber, wer wird da dich preisen? Ich mühe mich ab in meinem Seufzen, benetze jede Nacht mein Bett, und bade mein Lager mit meinen Tränen“23 S. 291So sprach David, obwohl er auf dem hohen Königsthrone saß, obwohl er führte das Szepter der menschlichen Gewalt, obwohl er in sich den Geist der Heiligkeit, die Gnade des Propheten bewahrte, und wir, die ganz dem Zorne des Herrn unterliegen, wissen nicht zu sagen: „Herr, strafe uns nicht in deinem Grimme.“ Die Erde verweigert die Frucht, der Himmel die Sonne, die Luft ihre heilende Kraft; eine Pest ist auf der ganzen Erde:durch die Städte hin, durch die Länder hin verzehrt sie in mannigfaltigen Krankheiten das ganze Geschlecht der Sterblichen. Und dennoch sagen wir nicht: „Herr, strafe uns nicht in deinem Grimme und züchtige uns nicht in deinem Zorne!“
Jener erfüllte nach den Triumphen des Sieges die Nächte mit seinen Seufzern und die Tage mit seinen Tränen, und wir, die wir unter dem Schwert des Feindes erliegen, wir haben keine Zeit für Gott, wir vergießen keine Tränen zu dieser Stunde für Gott! Aber Raub und Betrug, Unrecht, List und Plünderung: all diesem überlasen und übergeben wir uns! Und fast scheint es, als wollten wir so mehr und mehr noch den Zorn Gottes auf uns durch unsere Sünden herabrufen! Kommt, Brüder, kommt mit dem Propheten: „Kommt laßt uns anbeten und niederfallen vor ihm und weinen vor dem Herrn, der uns gemacht hat!“24 . Laßt uns sprechen: „Herr, strafe uns nicht in deinem Grimme und züchtige uns nicht in deinem Zorne“, damit er eingedenk sei seiner Barmherzigkeit, seinen Zorn uns wandle in Erbarmung, uns wiedergebe, was wir verloren, uns, die wir gefangen waren, befreie, damit er uns verleihe. mit Freuden zu dienen ihm, der lebt und herrscht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
eine genauere Datierung ist nicht möglich; es ist die Zeit der Völkerwanderung ↩
Ps 6,2 ↩
vgl. Tob 8,8 ↩
Ps 6,3 ↩
beim Tode und überhaupt in seinem ganzen Leben. Sinn: Der Mensch ist nicht sicher seines Lebens, kennt nicht die kleinste Zukunft ↩
von der Höhe ↩
Ps 6,3 ↩
vgl. Eph 2,3 ↩
Ps 6,3 ↩
Ps 37,4 ↩
ebd 37,8 ↩
Ps. 6,4 ↩
Gal 5,17 ↩
Röm 7,23 ↩
Ps 6,4 ↩
Ps 6,5 ↩
Is 53,4 LXX ↩
Joh 1,29 ↩
als sei die Sünde seine perönliche Tat und Schuld ↩
convertere hat hier die Bedeutung von „umwandeln“ ↩
Ps 6,5 ↩
ebd ↩
ebd 6,6 f. ↩
Ps 94,6 ↩
