Einundvierzigster Vortrag: Über die Stelle: „Der gute Hirt gibt sein Leben für seine Schafe.“ Joh 10,11
S. 226Wenn zur Zeit der Frühlingslüfte jedes Jahr die jungen Schäflein geboren werden, wenn über die Felder, Wiesen und Waldwege die zahlreichen Jungen der fruchtbaren Herde sich verstreuen, läßt der gute Hirt den Gesang ruhen, und besorgten Schrittes sucht und sammelt er die zarten Jungen und nimmt sie hocherfreut auf seinen Arm, legt sie auf seine Schultern, seinen Nacken, um sie alle wohlbehalten heimzubringen zu der sicheren Hürde. So pflegen auch wir, Brüder, wenn uns das vierzigtägige Frühlingsfasten winkt und wir sehen, dass reiche Früchte der kirchlichen Herde entsprossen sind, die feierliche Predigt und die sonst gewohnte angenehme Rede zu unterlassen1 , und alle Sorge verwenden wir, in großer Angst ob der Schwierigkeit des Werkes, darauf, die Sprossen des Himmels zu sammeln und herbeizubringen. Weil wir aber [jetzt] die jungen Lämmlein bei der Herde sehen, weil wir sie eingehegt sehen in die Hürde Christi, wenden wir uns hoch erfreut zu den göttlichen Liedern wieder zurück und legen euch in lautem Frohlocken die lebensspendenden Früchte des Herrenmahles vor, damit wir, gleichwie wir euch zu Genossen der Mühe hatten, euch auch zu Teilnehmern an der Freude haben können. Weil uns nun diese Einleitung erinnert hat an den guten Hirten, so soll jetzt der Geist unserer Predigt und unseres Vortrages ganz handeln von dem, der allein gut S. 227ist, der allein Hirt ist, der einzig und allein der Hirt der Hirten ist. „Der gute Hirte gibt sein Leben für seine Schafe“2 . Zu einem wahren Helden wandelt den Menschen um die Macht der Liebe. Denn wahre Liebe hält nichts für hart, nichts für bitter, nichts für schwer, nichts für tödlich. Welches Eisen, welche Wunden, welche Schmerzen, welcher Tod könnte denn auch die vollkommene Liebe überwältigen? Die Liebe ist ein undurchdringlicher Panzer, an dem die Pfeile abprallen, die Schwerter zerschellen. Die Liebe trotzt den Gefahren, verlacht den Tod, die Liebe überwindet alles3 .
Doch laßt uns untersuchen, ob den Schafen der Tod des Hirten Nutzen bringt, da er doch die Herde [des Hirten] beraubt, das unbewehrte Tier den Wölfen preisgibt, die so liebe Herde den tödlichen Bissen dieser wilden Tiere überläßt, sie dem Räuber, ja dem Mörder überliefert, wie ja auch der Tod Christi, unseres Hirten, selbst zur Genüge beweist. Denn von dem Augenblick an, wo er sein Leben für seine Schafe hingab und sich von den rasenden Juden töten ließ, sehen wir seine Schäflein geraubt von den gleich Räuberhorden hereinbrechenden Heiden. Wir finden sie als Schlachtopfer in den Kerkern, wie in Räuberhöhlen gleichsam eingeschlossen; wir finden sie ohne Unterlaß von den Verfolgern, die gleich sind wütenden Wölfen, zerfleischt, zerrissen von den Irrlehrern, mit giftigem Zahn wie von fremden Hunden. Das bezeugt der Apostel Schar durch ihren Tod; das ruft laut zum Himmel das Blut der Märtyrer, das vergossen ist ringsum auf dem ganzen Erdkreis; davon sind laute Zeugen die Glieder der Christen, die den Tieren vorgeworfen, vom Feuer verzehrt, von den Fluten versenkt wurden. Und dies hätte alles doch ebensogut durch das Leben des Hirten verhindert werden können4 , wie es eintreten mußte, nachdem der Hirte gestorben war! S. 228Wie will denn so der Hirte durch seinen Tod seine Liebe zu dir beweisen, dass er, obwohl er sieht, dass seinen Schafen Gefahr droht und er die Herde nicht verteidigen kann, lieber sterben will, ehe er noch das Unheil über seine Herde hereinbrechen sieht?5
Wie sollen wir das verstehen? Das „Leben“6 konnte doch nicht sterben, wenn es nicht wollte! Wer hätte denn dem, der [allen] das Leben gab, gegen seinen Willen das Leben nehmen können, ihm, der sagte: „Ich habe Macht, mein Leben hinzugeben, und ich habe Macht, es wiederzunehmen; niemand nimmt es mir?“7 . Er wollte also sterben, da er zuließ, dass man ihn tötete, obwohl er nicht sterben konnte. Suchen wir darum die treibende Kraft, den Beweggrund für eine solche Liebe, die die Ursache dieses seines Todes, dieses seines Leidens ist, zu erkennen! Offenbar liegt für diese Blutvergießung eine bestimmte Macht, ein echter Beweggrund, eine triftige Ursache, ein augenscheinlicher Nutzen vor; denn aus diesem einen Tod des Hirten leuchtet hervor eine einzigartige Kraft. Der Hirt litt für seine Schafe den Tod, der über diese verhängt war, um den Satan, den Urheber des Todes, aufs neue, [obschon scheinbar selbst] gefangen, gefangen zunehmen, [obschon scheinbar selbst] besiegt, zu besiegen, [obschon scheinbar selbst] dem Tode verfallen, ihn dem Todesurteil auszuliefern, und um so seinen Schafen durch seinen Tod den Weg zu zeigen, wie der Tod zu überwinden sei. Denn während der Teufel auf den Menschen Jagd machte, stürzte er auf Gott, während er wütete gegen den Angeklagten, fiel wer auf den Richter. Er selbst verfällt dem Todes urteil, da er die Strafe verhängen will; er selbst erleidet das Straf urteil, da er es vollstrecken will, und der Tod, der lebte von dem Fleische der Sterblichen, stirbt, wo er das Leben verschlingt; der Tod, der die Schuldigen verschlang, wird selbst verschlungen, indem er den Urheber der Unversehrtheit verschlang; der Tod selbst geht S. 229zugrunde, er, der alle verdarb, als er das Heil aller vernichten wollte! So ist also der Hirt seinen Schäflein nur vorangegangen, nicht hat der Hirt die Schafe verlassen8 . Nicht überließ er die Herde den Wölfen, sondern die Wölfe überantwortete er der Herde, da er ihnen die Macht gab, so sich ihre eigenen Henker9 zu wählen, dass sie, obwohl getötet, wieder lebten, obwohl zerfleischt, wieder auferstünden, in der Farbe ihres eigenen Blutes glänzten wie im königlichen Purpur oder im schneeigen Vließe10 .
So also hat der Hirt sein Leben für seine Schafe hingegeben, aber nicht verloren; die Schafe het er so gerettet, aber nicht verlassen; er hat sich den Schafen nicht entzogen, sondern sie an sich gezogen, indem er sie mitten durch das Land des Sterbens auf der Bahn des Todes rief und hinführte auf die Weiden des Lebens. Aber es könnte einer einwenden: Wann wird das geschehen? Siehe, noch liegen die Schäflein [der Herde Christi], das sind die Apostel, Propheten, Märtyrer, Bekenner, im Grabe, zerstreut weit über die ganze Erde, eines blutigen Todes gestorben, sind sie nun eingeschlossen in schaurigen Gräbern! Aber wer wollte zweifeln, dass auferstehen, leben, herrschen werden auch die gemordeten Märtyrer, wenn Christus für sie auferstand, lebt und herrscht, wenn er auch getötet ward? Höre, was der Hirt sagt: „Meine Schafe hören meine Stimme und folgen mir“11 . Es müssen also, die ihm folgten in den Tod, ihm auch wieder folgen zum Leben, die ihn geleiteten zur Schmach, ihn auch wieder geleiten zur Ehre, und seines Ruhmes teilhaftig werden, die Anteil nahmen an seinen Leiden. „Wo ich bin“, heißt es, „da wird auch mein Diener sein!“12 . Wo aber? Droben über den Himmeln, wo Christus sitzt zur Rechten Gottes13 . S. 230Mensch, wanke nicht in deinem Glauben, werde nicht müde in deiner Hoffnung, mag ihr Ziel auch noch so fern sein! Denn sicher ist dir, was der Urheber der Welt dir aufbewahrt. „Dem ihr starbet“, heißt es, „und euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott. Wenn aber Christus, euer Leben, erscheint, dann werdet auch ihr mit ihm in Herrlichkeit erscheinen“14 . Was der fleißige Landmann bei der Saat nicht sieht, schaut er in der Ernte, und was er15 in Tränen sät, wird er in Freuden ernten16 .
tractatus nostri cantus et consueti sermonis epulas seponen tes ↩
Joh 10,11 ↩
1 Kor 13,7 ↩
vita potuit prohibere pastoris [beachte die beliebte Form der Alliteration] ↩
So von mir als Frage gefaßt: der Text hat einen bloßen Punkt! ↩
Christus nennt sich selbst das „Leben“[vgl. Joh 14,6] ↩
Joh 10,18 ↩
Praecessit oves pastor, pastor ab ovibus non recessit ↩
eigentlich: Täuber, praedones ↩
niveo vellere ↩
vgl. Joh 10,14. 16 ↩
Joh 12,26 ↩
Hebr 12,2 ↩
Kol 3,3 f. ↩
ich lese quod in sulco deflet statt et qui... bei Migne ↩
vgl. Ps 125,5 ↩
