Neunundzwanzigster Vortrag: Über die Stelle: "Zur Zeit des Königs Herodes von Judäa war ein Priester namens Zacharias aus der Abteilung des Abias..." bis: "weil Elisabeth unfruchtbar war und beide in ihren Tagen vorgerückt waren." Lk 1,5-7
S. 164Alles, was von Gott geschaffen ist, ist gut, ja sehr gut, wie die Schrift sagt: "Gott sah alles, was er geschaffen hatte, und siehe, es war sehr gut"1 . Alles also, was von Gott geschaffen ist, ist gut, ja sehr gut. Aber es liegt in der Mitte zwischen Tugend und Laster2 , so dass aus ihnen die Einsichtigen für ihre Erkenntnis Nahrung schöpfen, die Unverständigen aber daraus Anlaß zum Irrtum nehmen. Denn die Weisen erkennen durch die Betrachtung der Schöpfung den Schöpfer3 , die Toren aber können, weil sie die Geschöpfe selbst für Gott halten, ihren Schöpfer nicht erkennen. Daher kommt es, dass die Heiden die Sonne, den Mond, die Sterne, Gold, Scheine, Holz sich zu Göttern gemacht, von denen die Christen wissen, dass dies alles ihrer Herrschaft unterworfen ist. Auch nimmt es nicht wunder, dass die Schöpfung so ein Mittelding ist4 , da ja auch der Schöpfer des Alls, Christus selbst, den Gläubigen zum Heile ist, den Ungläubigen zum Verderben, wie der Evangelist sagt: "Dieser ist gesetzt zum Falle und zur Auferstehung vieler"5 . Auch die Apostel sind den einen zum Tode, den andern zum Leben, wie Paulus beweist, wenn er S. 165sagt: "Den einen sind wir ein Geruch aus Tod zum Tode, den anderen aber ein Geruch aus Leben zum Leben"6 . So sind auch die Lesungen des Evangeliums den Guten eine heilsame Erkenntnis, den Bösen aber Anlaß zum Irrtum. Bei der [Erklärung der] früheren Erzählung des hl. Evangelisten, als er berichtete, dass Johannes der Täufer in den Banden des Herodes gelegen war, dass er ermordet wurde durch die ehebrecherische Tat der Herodias, dass er hingerichtet wurde zur Belohnung für die Tänzerin, haben wir beobachtet, dass einige in großer Aufregung sich fragten: "Warum hat Gott den Heiligen dem Gotteslästerer, den Jungfräulichen der Ehebrecherin, den Engel der Tänzerin überantwortet?"
Brüder! Die Tugenden des Johannes wie auch die Verbrechen des Herodes wollen wir in einer anderen Rede behandeln. Jetzt wollen wir davon sprechen, welcher Grund vorlag für seine Bande, welche Notwendigkeit für seine Einkerkerung, und welcher Segen aus dem Tode des Johannes hervorging. Denn Johannes durfte nicht sterben durch das allen Menschen gemeinsame Gechickt, wie er ja auch geboren war durch ein einzigartiges Vorrecht. Als Christus, Gott, im Fleische geboren wurde, ist Johannes, der Bote, erzeugt worden auf Erden, damit ebenso, wie sich hierbei Göttliches und Menschliches mischte, auch irdischer Dienst sich verbände mit göttlichem, und auf Erden nicht dem Gott der Engel, dem Herrn nicht der Dienst der himmlischen Gefolgschaft fehle7 . Doch laßt uns hören den Hergang bei der Geburt des Johannes, damit wir die Gründe für seinen Tod erkennen können! "Zur Zeit des Königs Herodes von Judäa",heißt es, "war ein Priester namens Zacharias aus der Abteilung des Abias, und sein Weib aus den Töchtern Aarons und hieß Elisabeth. Sie waren aber beide gerecht vor Gott und wandelten in allen Geboten und Vorschriften S. 166des Herrn untadelig"8 . So oft große und an Geist hervorragende Redner sich anschicken, die Tugenden berühmter Männer zu erzählen, erwähnen sie die Vorfahren und Ahnen, damit zu dem Ruhm der Gegenwart noch hinzukomme der Adel der Vorfahren, damit das Lob der Väter reichlich überströme zum Ruhme der Kinder. Höher ist der Geburtsadel als der Verdienstadel9 . Und das, was von der Abstammung sich herleitet, übertrifft das, was man sich durch eigene Arbeit erwirkt. Ruhm zu besitzen ist eingrößeres Glück, als ihn zu erwerben10 . Das ist der Grund, warum der Evangelist, um den Ruhm des Johannes noch zu mehren, das Geschlecht des Vaters Zacharias und seiner Mutter Elisabeth nennt, die Vorfahren angibt, ihre Verdienste beschreibt, ihre Titel nennt, ihren Rang anführt, ihr Leben schildert, ihre Ruhmestaten erwähnt, ihre Heiligkeit preist. "Zur Zeit des Königs Herodes von Judäa war." Er erwähnt die Zeit des gottlosen Königs, der die heilige Würde des Hohenpriestertums verletzte, die Ordnung umstürzte, das Gesetz auflöste, die ganze Einrichtung [des Priestertums] aufhob. Das alles ist dem Zacharias zum Verdienst. Denn obwohl Herodes fast gegen alle seine verwegenen, gottlosen Hände zu erheben wagte, wagte er es dennoch nicht gegen diesen. Denn dessen Tugenden überwältigten ihn so, dass die priesterliche Nachfolge unversehrt bewahrt blieb zum Ruhme des Sprößlings.
"Sein Weib aus den Töchtern Aarons." Aaron war der erste Hohepriester im Gesetz, der Stammvater des Priestertums. Deshalb wird sie [Elisabeth] mit Übergehung aller ganz zu Recht seine Tochter genannt. Die Erinnerung an ihn trug schon in sich die Heiligkeit, die sie, die treue Hüterin eines solch großen Geschlechtes, auch rühmlichst auf ihren Sohn überpflanzte. S. 167Und dazu schildert der Evangelist noch das Lob dieser Mutter: "Sie waren"", heißt es, "beide gerecht vor Gott." Das ist unerhörtes Glück, das ist eine einzig dastehende Ehe,11 , wenn in zweien ein Geist wohnt, in zweien eine Heiligkeit. Fest zusammen stand im Geiste, was getrennt war im Geschlechte; geeint war in den Sitten, was äußerlich zweifach erschien; gleich machte sie die Tugend, die ungleich gemacht hatte die Natur.
"Beide waren", heißt es, "gerecht vor Gott." Das Wohlgefallen der Menschen zu besitzen, vor den Menschen gerecht zu sein, ist menschliche Tugend und kostet sehr viele Mühe! Vor Gott, der die Herzen durchforscht12 , die Gedanken durchsucht, die Regungen des Geistes sieht, gerecht zu sein, ist nicht menschliche Tat, sondern göttliche Gnade. Wenn der groß ist, der ohne Sünde ist im Fleische, wie groß ist dann der, der nicht einmal im Herzen sündigt? Johannes ist also geboren über die Kraft des Fleisches hinaus von jenen, die vor Gott weder im Herzen noch im Fleische gesündigt hatten. Darum fügt der Evangelist hinzu: "Sie wandelten in allen Geboten und Vorschriften des Herrn untadelig." "Sie wandelten". Es wandelt der, der nicht stehen bleibt auf dem Wege der Sünder13 ,der als Fremdling sich fühlt in dieser Welt14 , der unerschrocken betritt die rauhen Gefilde15 der Tugenden, der die Berge der Vorschriften, die Hügel der Gebote hinaufsteigt als unermüdlicher Wanderer, um zu genießen den Anblick des Vater-Gottes, die Seligkeit des himmlischen Vaterlandes.
"Sie wandelten in allen Geboten und Vorschriften." In allen Dingen wandelten sie, in denen sonst niemand oder doch nur wenige [wandelten]. "In allen Geboten und Vorschriften." Wer geht, ohne die Wirkung des Rauches zu empfinden, hindurch durch die Feuersbrunst S. 168der Leidenschaften? Wer geht über die schlüpfrige Bahn des Lebens dahin, ohne je zu Fall zu kommen? Wer schreitet hinüber unbefleckt über die Abgründe des Lasters? Wer erträgt des Fleisches Nöte, des Lebens Zwischenfälle, der Welt16 Schläge, ohne zu klagen, wenn er sehen muß, dass selbst der Augenblick seiner Geburt voll ist von Tränen und Klagen? Denn von Natur aus klagt die Gebärende im Schmerz, und von Natur aus bricht klagend in Tränen aus der Geborene. Aber in Zacharias und Elisabeth war die Schuld erloschen, die Klage verstummt, jeder Zweifel geschwunden, weil in ihnen sich bereitete, was als ganz heilig geboren werden sollte. Doch dies soll aus der Lesung selbst sich ergeben. "Und sie hatten", heißt es, "keinen Sohn, weil Elisabeth unfruchtbar war"17 . Diese Unfruchtbarkeit ist kein Fluch, sondern ein Geheimnis: in ihr ist die Geburt nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben18 ; nicht für die Leibesfrucht war [ihr Schoß] verschlossen, sondern für die Zeit; durch die Zeit wurde sie19 gepflegt, durch die Tugend besät, zur Reife gebracht durch das Alter; trotz ihres Greisenalters wuchs sie, damit in einem einzigen Sohne die ganze Unfruchtbarkeit aufgewogen würde, weil in diesem Einen geboren wurde die Vollzahl der Tugenden. O glückselige Unfruchtbarkeit, die da aufbewahrt wurde für eine [solche] Geburt und wartete auf den Johannes, dem die Würde der Erstgeburt nicht verloren gehen sollte, weil ihm ja in allem das Vorrecht gebührte! "Sie waren beide vorgerückt in ihren Tagen"20 . Vorgerückt waren sie, nicht hatten sie abgenommen21 . In den Heiligen lebte das Alter; es hatte nicht ab, sondern zugenommen. Oder was fehlt denen, die immer neue Kraft erhalten durch ihre Tugenden? Deshalb erlöscht nur in Zacharias und Elisabeth die S. 169Zeugungskraft, deshalb wird schlaff des Fleisches Lust, deshalb ermüden die Glieder, deshalb geht die [natürliche] Zeit [des Gebärens] vorüber, deshalb geht ihnen das Alter [der Zeugung] verloren, deshalb wird ihnen alles genommen, was nur immer die menschliche Ordnung und der eheliche Umgang mit sich bringt: damit durch göttliche Gnade, nicht durch menschliche Zeugung geboren werde der Engel!
Wir hatten versprochen, von der Geburt des Johannes die Gründe für seinen Tod zu entnehmen. Aber weil uns heute die ausführliche Rede schon so lange aufgehalten hat, und weil noch aus dem folgenden genug übrig ist, um unsere Behauptung zu beweisen, so möge das bis jetzt Ausgeführte hingenommen werden zur Verherrlichung seiner Geburt. Wir wollen aucb uns euch gegenüber nicht undankbar zeigen, da wir unsere Schuld nur aufschieben, nicht aber uns derselben entziehen wollen. Denn für den Schuldner wird die Dankbarkeit dem Gläubiger gegenüber größer, wenn er die Schuld aufschieb. Geduldet euch also, dass euer Schuldner dieses Versprechen gegeben hat, und erwartet es ruhig; denn unser Versprechen kann nicht abgeleugnet werden, wo der unfruchtbaren [Elisabeth später] in so reichem Maßte zuteil wurde, was ihr [anfangs] verweigert war.
Gen 1,31 LXX ↩
d. u. zwischen guter und schlechter Auffassung, wie das Folgende zeigt. ↩
vgl. Röm 1,20,Wh 13,4f ↩
zwischen gut und bös ↩
Lk 2,34 ↩
2 Kor 2,16 ↩
d. i. Johannes dem Christus ↩
Lk 1,56 ↩
major est innata gloria quam quaesita ↩
Chrysologus zeigt sich durch diese Bemerkung als echten Römer ↩
est nova felicitas, et conjugium singulare! Welches Licht wirft die Bemerkung auf die ehelichen Zustände jener Zeit! ↩
vgl. Ps 7,10; Apg 15,18 ↩
vgl. Ps 1,1 ↩
vgl. Hebr 13,14; 1 Petr 2,11 ↩
wörtlich: Wohnungen, mansiones ↩
d. i. des Lebens: ictus mundi, so wohl zu lesen statt actus m. ↩
Lk 1,7 ↩
Partus non ablatus est, sed dilatus ↩
d. i. die Frucht der Elisabeth ↩
Lk 1,7 ↩
processerant, non decesserant ↩
