Vierundfünfzigster Vortrag: Über Ps 99,15
S. 292Da bei der Rückkehr des jüngeren Sohnes die ganze Familie Lieder sang und eine himmlische Musik anstimmte, so ziemt es auch uns heute1 , die Harfe zu nehmen, die Pauken schlagen, Orgelklänge erschallen zu lassen, in die Zither zu greifen und so den Davidischen Gesang zur großen Freude des Vater-Gottes voll erklingen zu lassen. "Jubelt Gott", heißt es, "alle Lande!"2 . Welche Erkenntnis zwingt uns denn zu dieser Freude? Was ist es denn, dass nun [nach Beendigung der Vorbereitungszeit der Fasten] nach solch erschütternden und erhabenden Geboten Gottes die Erde aufgerufen und eingeladen wird zum Lobgesang? "Jubelt Gott, alle Lande!" Doch nichts anders als dies: der furchtbare Gott hat angetreten das Amt des überaus milden Hirten, hat die Rolle eines Hirten angekommen, um die herumschweifenden Völker, die ruhelos einherirrenden Völkermassen, die weit zerstreuten Stämme, die wie Schafe in die Irre gingen3 , als barmherziger Hirte in einem Stalle zu sammeln, ja um die wilden Nationen, die schmachtenden nach der Beute des Todes, nach fleischlicher Speise, nach blutigem Trank und tierischer Wildheit, hinzuführen zur Ernährung durch Milch und Gras und ihnen so die Zartheit des Schäfleins wieder ganz zurückzugeben! Hirtenart legt er befehlend der ganzen Erde wieder ans Herz, indem er spricht: "Ju belt Gott, alle Lande!" Wie die furchtbar tönende Trompete den Soldaten in den Kampf führt, so lockt die Schafe auf die Weide der süße Ton der Schalmei. Es ziemte sich also, den Kampfeslärm zu mildern mit Hirtenliebe, damit die S. 293milde Gnade die Völker rette, die die Wildheit der Natur so lange verderbt hat. Dass aber gerade damals die Rückkehr des guten4 Hirten stattfand, als Christus auf die Erde kam, ruft er selbst laut uns heute zu, wenn er spricht: "Ich bin der gute Hirt; der gute Hirt gibt sein Leben für seine Schafe"5 . Und darum sucht der Meister selbst Mitarbeiter, da rum sucht er Helfer in seiner Fürsorge für den ganzen Erdkreis, indem er spricht:
"Jubelt Gott, alle Lande!" Darum übergibt er dem Petrus an seiner Statt, als er in den Himmel zurückkehren wollte, seine Herde, dass er sie weide: "Petrus", heißt es, "liebst du mich? Weide meine Schafe?"6 Und damit dieser wiederum nicht mit Gewalt die schwachen Erstlinge zwinge, sondern mit Liebe ertrage, wiederholt er: "Petrus, liebst du mich? Weide meine Schafe!" Er übergibt ihm die Schafe und zugleich die jungen Sprossen der Schafe, weil er, der weit vorausschauende Hirt, in seinem Geiste schon sah die künftige Fruchtbarkeit seiner Herde. "Petrus, liebst du mich? Weide meine Schafe!" Dieser jungen Schar reichte Paulus, der Amtsbruder des Petrus in liebevoller Ernährung die mit Milch gefüllte Brust, wenn er sagt: "Ich habe euch Milch zu trinken gegeben und nicht feste Speise"7 . Das weiß auch der selige königliche Sänger, und darum ruft er aus, gleichsam blökend8 wie ein Schäflein: "Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir mangeln. Auf grünen Auen hat er mich gelagert; an erquickenden Wassern hat er mich erzogen"9 . Nach langem Kriegsgetümmel, nach traurigem, blutbeflecktem Leben verkündet der folgende Vers dem, der zurückkehrt zu den Weideplätzen des Friedenslandes des Evangeliums, Freude wegen der [überwundenen] Knechtschaft. Der Mensch war ein Sklave der Sünde10 , lag in den Banden des Todes, in der Gewalt der Dämonen. S. 294Er war dem Götzendienste ergeben, ein schlauer Fuchs im Sündenleben, gefesselt von dem Laster. Und solchen ebenso zahlreichen wie schlechten Herren lieh er seine Dienste: ei ne schmachvolle und nichtswürdige Knechtschaft. Denn wann war je ein Mensch nicht traurig unter der Last der Sünde? Wann seufzte er nicht unter den Banden des Todes? Wann war sein Antlitz nicht bleich unter den Schlägen der Dämonen? Wann erfüllte ihn nicht Angst unter der Herrschaft der Götzen? Wann war er nicht argwöhnisch unter dem Fluche der Laster? Wann war er nicht verzweifelt unter der Last der Sünden? Und darum ließ es laut seine starken Schmerzensschreie ertönen, solange er schmachten mußte unter solch grausamen Herren.
Darum ruft der Prophet, der uns befreit sieht von solchen Herren, der uns zurückgerufen sieht zum Dienste des Schöpfers, zur Gnade des himmlischen Vaters, zum freien Dienste eines einzigen und guten Hirten darum ruft er mit Recht aus: "Dienet dem Herrn mit Freuden; tretet hin", heißt es, "vor sein Angesicht mit Jubel!"11 . Tretet ein vor sein Angesicht, nicht räumlich, sondern mit euren Herzen tretet hin vor sein Angesicht! "Tretet vor sein Angesicht mit Jubel!" Denn euch, die die Schuld von ihm wegtrieb, die das schuldbeladene Gewissen von ihm hinwegführte, euch hat die Gnade zurückgeführt, euch hat die [wiedererlangte] Unschuld hingebracht vor sein Angesicht: "Tretet vor sein Angesicht mit Jubel!" Denn wer vor sein Angesicht hintreten darf mit Jubel, ist ganz frei von jeder Schuld, ganz sicher seines Lohnes. Aber woher nimmt der Prophet hier den Grund zu seiner Mahnung? Worauf beruft er sich bei seinem Rat? "Tretet vor sein Angesicht mit Jubel!" Denn wer ist vor Gottes Angesicht frei von Schuld? Wer darf sich vor den Augen Gottes verstellen? Wer darf frohlocken vor der furchtbaren Majestät des Himmels? Die Erzengel zittern, die Engel fürchten sich, die Mächte erbeben, S. 295es fallen nieder die Ältesten12 vor dem Angesichte des Himmels, die Elemente lösen sich in wildem Chaos auf, Feldblöcke zer springen, Berge stürzen um, die Erde erzittert, und der Mensch, der Mensch dieser Erde , wie kann er furchtlos hintreten? Wie soll der Mensch da noch jubelnd sich erheben? Wie [so frage ich wieder], wie wagt es der Prophet, uns zu solchem unerläßlichen Tun aufzufordern? Wie? Nun deshalb, weil es weiter heißt: "Bekennet, dass der Herr Gott ist"13 . Denn der Herr ist jener Gott, der in unserem Fleische so klein war. Denn der Herr ist jener Gott, der in unserer Wiege lag, so süß in ihrem Schoß, so sanft in seinem Auftreten, so bezaubernd in seinem Umgang mit uns! Und dabei heißt es: "Tretet vor sein Angesicht mit Jubel!" Denn er hat die ganze Furcht vor der Majestät seiner Gottheit und unsere Furcht vor dem Richter mit sorgendem Auge verhüllt, da er erschien in unserer Gestalt, damit der Eintretende nicht zu fürchten brauche den strafenden Richter, sondern sich bewillkommnet sehe von der Umarmung des Vaters. Und wie sollte der nicht jubeln, der den als Erzeuger wiederfindet, den er als Richter fürchten muß?
"Tretet vor sein Angesicht mit Jubel! Bekennet, dass der Herr Gott ist. Er hat uns erschaffen und nicht wir uns selbst!"14 . Vergeblich ist ja des Vaters und der Mutter Mühe, wenn nicht dem Sprößling zur Seite steht die Arbeit und die Kraft des Schöpfers. "Denn deine Hände haben mich erschaffen und gebildet"15 , heißt es, und an einer andern Stelle: "Du hast mich gebildet und über mich deine Hand gelegt"16 . Dass wir geboren werden, dass wir sind, verdanken wir also nicht uns selbst. Denn alles, [was wir sind und haben,] verdanken wir dem, der uns erschuf. "Sein Volk sind wir und die Schafe seiner Weide."17 . In den Verheißungen ist es des öfteren zur Genüge dargetan worden, dass der himmlische Hirt gekommen ist, der die irrenden Schafe, die durch des Todes Kraut S. 296verwundet waren, wieder zurückrief mit himmlischem Jubelgesang zur Weide des Lebens. "Tretet", heißt es weiter, "mit Lob in seine Tore ein!"18 . Ja, das Bekenntnis19 ist es allein, das uns eintreten läßt durch das Tor des Glaubens. "In seinen Vorhof unter Lobgesängen; preiset ihn, lobet seinen Namen!"20 . Wir sagten oben: wir, die wir schon im Hause des Vaters weilen [die Vollchristen], wir müßten den geistlichen Symphobiegesang himmlischer Lieder anstimmen, damit beim Eintritt unser Bekenntnis geschehe, unsere Hymnen erschallen in dem Vorhof, damit unser Lobgesang ertöne in dem Innern des Heiligtums, dort wo die Fülle der Gottheit21 wohnt. "Preiset ihn! Lobet seinen Namen! Preiset ihn, denn er ist der Herr!" Lobet seinen Namen, durch den wir gerettet worden sind22 , in dem sich Himmel, Erde und Unterwelt beugen23 und Gott den Herrn lieben die Geschöpfe. Denn gütig ist der Herr!"24 . Warum? "Denn seine Gnade währet ewig"25 . Ja, gütig ist er in der Tat durch seine Barmherzigkeit, durch die allein er das so harte Strafurteil der ganzen Welt hinweggenommen hat26 . Denn "seht das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt"27 . "Und in alle Ewigkeit seine Treue"28 . Denn der Herr übt Erbarmen unter Wahrung seiner Wahrhaftigkeit. Denn so gibt er Verzeihung der Sünden, dass er die Gerechtigkeit bewahrt in seiner Erbarmung und Weisheit. Er sei gelobt in Ewigkeit. Amen.
die Predigt ist gehalten bei der Aufnahme der Katechumenen. Die Perikope handelt vom guten Hirten. ↩
Ps 99,2 ↩
vgl. Ps 118,1-76 ↩
ich lese mit Januel pastoris boni reditus statt pastoris bonus reditus ↩
Joh 10,11 ↩
ebd 21, 16f. ↩
1 Kor 3,2 ↩
pro balatu ↩
Ps 22,1f. ↩
vgl. Joh 8,34 ↩
Ps 99,2 ↩
Offb 4,4 ↩
Ps 99,2 ↩
Ps 99,3 ↩
Ps 118,73 ↩
Ps 138,5 ↩
Ps 99,3 ↩
Ps 99,4 ↩
confessio faßt Chrysologus in der Bedeutung von "Bekenntnis". ↩
Ps 99,4 ↩
vgl. Kol 2,9. Gemeint ist das allerheiligste Altarsakrament ↩
vgl. 1 Kor 15,2 ↩
Phil 2,10 ↩
Ps 99,5 ↩
Ps 99,5 ↩
vgl. Kol 2,14 ↩
Joh 1,29 ↩
Ps 99,5 ↩
