Erster Artikel. Die Seele ist Sitz von Leidenschaften.
a) Dem steht entgegen: I. Leiden ist eine Eigentümlichkeit des Stoffes. Die Seele aber ist nicht zusammengesetzt aus Stoff und Form; vgl. I. Kap. 73, Art. 5. Also findet sich in der Seele keinerlei Leidenschaft. II. Leidenschaft will heißen Bewegung (nach Aristoteles 3. Phys.). Die Seele aber ist nicht in Bewegung. III. Leiden ist der Weg zum Vergehen hin; denn „jedes Leiden“ heißt es 6. Top. c. 2. „entfernt im Maße daß es zunimmt etwas von der Substanz.“ Die Seele aber ist unvergänglich. Auf der anderen Seite sagt Paulus (Röm. 7.): „Da wir fleischlich gesinnt waren, fanden die Leidenschaften der Sünden, welche das Gesetz nicht entfernte, sich in Thätigkeit in unseren Gliedern.“ Die Sünden aber sind so recht eigentlich in unserer Seele. Also sind auch die Leidenschaften, welche als zu den Sünden gehörig bezeichnet werden in der Seele.
b) Ich antworte, „Leiden“ werde in dreifacher Bedeutung gebraucht: 1. im allgemeinen, wonach jegliches Empfangen ein „Leiden“ ist, mag auch nichts von der betreffenden Substanz entfernt werden; wie z. B. die Luft leidet unter dem Lichte, wenn sie erleuchtet wird. Das besagt dann mehr ein Vollendetwerden wie ein „Leiden“; — 2. nennt man „Leiden“ im eigentlichen Sinne, wenn etwas empfangen wird, zugleich aber damit die Entfernung von etwas Anderem verbunden ist; und zwar geschieht dies einmal in der Weise, daß entfernt wird, was zum betreffenden Wesen nicht paßt; wie z. B. der tierische Körper leidet, wenn er geheilt wird und somit die Entfernung der Krankheit die Folge ist. Dann 3. wenn im Gegenteil das Zukömmliche entfernt wird, wie z. B. wenn man die Krankheit empfängt und die Gesundheit dadurch sich entfernt. Und dies ist die eigenste Bedeutung des „Leidens.“ Denn „Leiden“ entsteht dadurch daß etwas zum Einwirkenden hingezogen wird. Jenes aber scheint am meisten zu etwas Anderem hingezogen zu werden, was von dem ihm Zukömmlichen sich entfernt. Und deshalb heißt es 1. de gener.: „Wenn aus etwas Niedrigerem etwas Erhabeneres gezeugt wird, so ist dies schlechthin eine Erzeugung und nur unter Bedingung oder nur nach einer Seite hin ist dies Vergehen. Das Umgekehrte aber ist der Fall, wenn aus etwas mehr Erhabenem etwas Niedrigeres entsteht.“ Und auf alle diese drei Weisen trifft es sich, daß die Seele nach einer Seite hin Sitz von „Leiden“ oder von Leidenschaften ist. Denn, insoweit „Leiden“ nur ein Empfangen bedeutet, ist das sinnliche Empfinden: Sehen, Hören also, und das geistige Erkennen ein gewisses „Leiden“. „Leiden“ aberinsoweit etwas entfernt wird, das kann nur gemäß einer körperlichen Veränderung vorhanden sein. So also, in diesem eigentlichen Sinne aufgefaßt, kommt der Seele an und für sich es nicht zu, Sitz oder Subjekt von Leidenschaften zu sein; sondern nur auf Grund des Körpers, der zu ihr in natürliche Vereinigung hinzutritt, also inwieweit der ganze, aus Leib und Seele zusammengesetzte Mensch in Betracht kommt. Hier aber ist ein Unterschied zu beobachten. Denn da die mit der Leidenschaft gegebene Veränderung vom Besseren zum Schlechteren hin stattfindet, so ist das in eigentlicherem Sinne Leidenschaft, als wenn das Umgekehrte statthat. Trauer hat daher mehr den Charakter von Leidenschaft wie Freude.
c) I. „Leiden“ mit Veränderung und mit Entfernung von etwas ist dem Stoffe eigen, findet sich also nur in den aus Stoff und Form zusammengesetzten Dingen. „Leiden“ aber als bloßes Empfangen ist allen jenen Wesen, auch den geistigen, eigen, welche vollendungsfähig sind, also Vermögen für bestimmte Thätigkeiten besitzen. II. „Leiden“ und „In-Bewegung-sein“ kommt allerdings der Seele nicht an und für sich zu, per se; wohl aber per accidens, d. h. auf Grund ihrer Verbindung mit dem Körper. III. Diese da erwähnte Art Leidenschaft, die zum Schlechteren hin sich richtet, kommt der Seele nicht an und für sich zu; sondern dem Zusammengesetzten, das an und für sich vergänglich ist.
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