Zweiter Artikel. Die Leidenschaft hat ihren Sitz mehr im Begehrungs- wie im Auffassungsvermögen.
a) Das Gegenteil erhellt aus folgenden Gründen: I. „Was in irgend einer Seinsart die erste Stelle einnimmt, das hat in allem Anderen, was zu dieser Seinsart gehört, die allgemeinste Bedeutung und ist die Ursache davon; wie z. B. das Feuer in der Seinsart des „Warmen“ sagt Aristoteles. (2 Metaph.) An erster Stelle aber ist die Leidenschaft im Auffassungsvermögen und erst darauf in der Begehrkraft. Denn letztere erhält keinen Eindruck und „leidet“ also nicht, wenn ein entsprechender Eindruck im auffassenden Teile nicht vorhergegangen ist. Also ist die Leidenschaft vielmehr im auffassenden Teile wie im begehrenden. II. Was seiner Natur nach mehr thätig ist, das scheint minder dem Leiden zugänglich zu sein. Denn Thätigsein steht im Gegensatze zum Leiden. Nun ist aber das Thätigsein mehr entsprechend der Natur des Begehrvermögens wie der Natur der Auffassungskraft. Also ist Leidenschaft mehr in der letzteren. III. Die sinnliche Begehrkraft ist ebensogut an ein stoffliches Organ dem Wesen nach gebunden wie die sinnliche Auffassungskraft. Nun ist aber die Leidenschaft so recht eigentlich zu beurteilen nach der körperlichen, stofflichen Veränderung. Also ist ihr Sitz ganz gleichermaßen die Begehr- wie die Auffassungskraft. Auf der anderen Seite sagt Augustin (9. de civ. Dei cap. 4.): „Jene Seelenbewegungen, welche von den Griechen πάθη, von den unsrigen aber, wie z. B. von Cicero, Gemütsverwirrungen, perturbationes, oder Affekte oder nach dem griechischen Ausdrucke „passiones“ genannt werden.“… Danach also bedeuten die „Passionen“ oder Leidenschaften dasselbe was „Affekt“ bezeichnet; dieser aber hat ohne Zweifel im Begehr- und nicht im Auffassungsvermögen seinen Sitz.
b) Ich antworte, daß der Name „Leidenschaft“ in sich einschließt, daß das „leidende“ Element hingezogen wird zum thätig wirksamen. Die Seele wird aber vielmehr zu einem Gegenstande hingezogen vermittelst der Begehrkraft wie vermittelst des Auffassungsvermögens. Denn durch die erstere hat die Seele Beziehung zu den außen befindlichen Dingen, insofern diese in sich selber Sein haben; sagt doch deshalb Aristoteles (6 Metaph.), das Gute und Böse, also die Gegenstände der Begehrkraft, seien in den Dingen selber. Die Äuffassungskraft dagegen wird nicht zum außen befindlichen Dinge gezogen, soweit dieses in sich selber, außen, Sein hat, sondern sie erkennt gemäß dem Bilde des Gegenstandes, welches sie in sich selber hat, das sie in sich aufnimmt gemäß ihrer eigenen Seinsweise; wonach Aristoteles mit Recht sagt, das Wahre und Falsche, also der Gegenstand des Erkennens, sei nicht in den Dingen, sondern im Geiste. Demgemäß also findet sich der Charakter des Leidenschaftlichen mehr im Begehrungsvermögen wie in der Auffassungskraft.
c) I. Das Mehr und Minder oder die Intensität der Kraftentwicklung in den einzelnen Gliedern einer Seinsart verhält sich umgekehrt in dem Falle daß es die Vollendung betrifft wie in dem Falle daß es sich um einen Mangel handelt. Bei der Vollendung nämlich ist jegliches Glied in der Reihe um so stärker oder besser, je mehr es dem Princip nahe steht; wie ein Zimmer um so heller erleuchtet ist, je näher es dem lichtgebenden Körper als dem Princip des Leuchtens steht. Handelt es sich aber um einen Mangel, so ist etwas um so schlechter oder mangelhafter, je weiter es sich entfernt vom Princip des Vollkommenen; besteht doch gerade darin der Mangel, daß im Anfange immer ein kleiner Fehler sich findet, der nach und nach größer wird. „Leiden“ nun oder Leidenschaft gehört in das Bereich des Mangels; denn das Wesen, in dem sie den Sitz hat, ist insoweit im Zustande des Vermögens, etwas zu empfangen oder bestimmt zu werden; ist sonach insoweit nicht bereits thatsächlich vollendet. Daher kommt es, daß jene Wesen, welche dem Erst-Vollkommenen, Gott nämlich, nahe stehen, wenig am Charakter des Leidens und des Bestimmtwerdens teilnehmen; sie sind von vornherein bereits in sich vollendet und thätig. Andere Wesen aber, welche von Gott mehr entfernt sind, tragen mehr den Charakter des Leidens. Und so findet sich auch in der voranstehenden Seelenkraft, im Auffassungsvermögen, weniger vom Charakter des Leidenschaftlichen. II. Die Begehrkraft wird als im höheren Grade thätig bezeichnet, weil sie in höherem Grade Princip des nach außen gerichteten Aktes ist. Und dies ist eben deshalb der Fall, weil sie mehr dem Leiden zugänglich ist d. h. weil sie in höherem Grade und tiefer den Eindruck von außen empfängt, weil sie also ihrer Natur nach Beziehung zum Gegenstande hat, soweit dieser in sich selber, außen, Sein besitzt. Denn eben durch die Thätigkeit nach außen hin gelangen wir in den wirklichen Besitz der betreffenden Dinge. III. Das stoffliche Sinnorgan erfährt in doppelter Weise eine Veränderung: einmal in geistiger Weise, soweit nur ein Bild des betreffenden Dinges je nach der Verfassung und der Natur des Organs im Sinne ist; wie z. B. das Auge, ohne daß es warm oder kalt oder sonstwie stofflich geändert wird, vom sichtbaren Gegenstande aus beeinflußt erscheint durch das Farbenbild; — und solche Veränderung ist an und für sich der Naturdes betreffenden Sinnes als eines auffassenden angemessen. Dann findet eine Veränderung im stofflichen Sinnorgane statt, in rein stofflicher Weise gemäß der natürlichen Zusammensetzung der Teile des Organs, wie z.B. wenn dasselbe kalt oder warm wird; — und eine solche Änderung ist nicht an und für sich dem auffassenden Sinne angemessen, sondern auf Grund von etwas Nebensächlichem, unter einer gewissen Beziehung nur, per accidens; z. B. wenn das Auge infolge langen Sehens müde wird oder wegen der Grelle des Lichts erblindet. Dagegen hat diese letztgenannte Art von Veränderung an und für sich allein betrachtet, kraft ihrer Natur schlechthin Beziehung zur Begehrkraft und umgekehrt, nicht per accidens. Deshalb wird auch in der Begriffsbestimmung der Bewegungen des sinnlichen Begehrens als das bestimmbare Element — materialiter — gesetzt eine solche rein stoffliche, der Natur des zusammengesetzten Organs entsprechende Veränderung; wie z. B.: der Zorn bezeichnet wird als „ein Entbrennen, Warmwerden des Blutes um das Herz herum.“ Also wird Leidenschaft nach allen Seiten hin mehr gefunden im Begehrungs- wie im Auffassungsvermögen, mag auch jedes dieser Vermögen in der Thätigkeit wesentlich an ein stoffliches Organ gebunden sein.
