Erster Artikel. Von der Natur stammt keine eigentliche Tugend in uns.
a) Dies ist gegen: I. Damascenus (3. de orth. fide 14.), der da sagt: „Von der Natur sind die Tugenden und gleichmäßig sind sie in allen;“ und Antonius (semo ad monachos): „Wenn der Wille die Natur verändert, ist dies Verkehrtheit; die Natur bleibe unberührt und es ist Tugend.“ Ebenso die Glosse zu Matth. 4. circuibat: „Er lehrt die von der Natur kommenden Tugenden; die Gerechtigkeit, Keuschheit, Demut, die der Mensch von Natur aus hat.“ II. Tugendhaft sein heißt gemäß der Vernunft sein. Das ist aber natürlich für den Menschen. III. Einige Tugenden sind mit der Geburt gegeben; nach Job 31.: „Von Kindheit an wuchs mit mir die Barmherzigkeit und mit mir ging sie aus vom Mutterleibe.“ Auf der anderen Seite ist das, was dem Menschen von Natur aus innewohnt, allen Menschen gemeinsam und wird nicht fortgenommen durch die Sünde; „denn auch den Teufeln blieben ihre natürlichen Gaben“ heißt es 4. de div. nom. Die Tugend aber ist nicht gemeinsam allen Menschen und wird entfernt durch die Sünde. Also ist sie nicht von Natur.
b) Ich antworte, daß mit Rücksicht auf die Wesensformen im Körperlichen manche sagten, sie kämen ganz und gar von innen, vom Dinge heraus; wie dies jene meinten, die das Verborgensein der Formen verteidigten. Andere aber nahmen an, dieselben kämen durchaus von außen her, wie jene, die da meinten, die körperlichen Wesensformen seien von einer wesentlich getrennt vom Körper bestehenden Ursache. Endlich waren wieder andere der Ansicht, sie beständen zwar vorher im Stoffe dem Vermögen nach, würden aber zu thatsächlichem Sein gebracht durch Einwirken von außen her. So nun meinte man auch rücksichtlich der Wissenschaften und Tugenden, sie seien ganz von innen her, so zwar, daß sie alle der Natur nach vorherexistierten in der Seele; und daß durch Lernen und Üben bloß die Hindernisse entfernt würden, welche zur Seele auf Grund der Schwerfälligkeit des Körpers hinzuträten, wie wenn man z. B. das Eisen glatt macht. Das war die Meinung der Platoniker. Andere meinten, wie Avicenna, sie kämen ganz und gar von außen her; nämlich von dem Einflüsse der einwirkenden Vernunftkraft. Endlich meinten wieder andere, die Anlage wohl zu den Wissenschaften und Tugenden sei von Natur; nicht aber ihr vollendetes Wesen (2 Ethic. 1.); und das hat mehr die Wahrheit für sich. Zu besserer Klarstellung ist da zu betrachten, daß einem Menschen etwas natürlich ist entweder infolge der Natur seiner Gattung; oder infolge seines einzelnen Seins. Und weil jegliches Ding das Wesen seiner Gattung hat gemäß seiner bestimmenden Wesensform, Einzelsein aber gemäß dem Stoffe; und die bestimmende Wesensform im Menschen nun ist die Seele, sein Stoff der Körper; — so ist das, was dem Menschen zukommt seiner vernünftigen Seele nach, ihm natürlich gemäß der Natur seiner Gattung; und was ihm zukommt gemäß der eigentümlichen Zusammensetzung (Komplexion) seines Körpers, ist ihm natürlich gemäß der Natur seines Einzelseins. Denn was von seiten des Körpers dem Menschen natürlich ist gemäß der Gattung, das läßt sich gewissermaßen zurückführen auf die Seele; insofern nämlich zur menschlichen Seele ein menschlicher Körper gehört. Auf beiderlei Weise aber ist dem Menschen natürlich gemäß einem gewissen Beginne die Tugend: der Natur der Gattung nach, insofern in der Vernunft des Menschen von Natur vorhanden sind als natürlicherweise gekannt gewisse allgemeine Principien sowohl für das, was man wissen will als auch für das, was man thun soll, die da sind wie Samenkörner für die Tugenden in der Vernunft und für die moralischen Tugenden; und insofern ebenso im Willen eine gewisse natürliche Hinneigung besteht zum Guten, wie es der Vernunft entspricht; — der Natur des Einzelseins nach, insofern vom Körper aus manche mehr, die anderen weniger geeignet sind für gewisse Tugenden; denn manche sinnliche Kräfte sind Thätigkeiten gewisser körperlicher Organe, durch deren Zusammensetzung und Verfassung derartige Kräfte gehindert oder unterstützt werden in ihren Thätigkeiten; und infolge dessen ist dies auch mit den vernünftigen Kräften der Fall, in deren Dienst diese sinnlichen stehen. So hat nämlich der eine die natürliche Neigung zur Wissenschaft, der andere zur Stärke, der dritte zur Mäßigkeit. Auf diese Weise also ist in uns der Anfang oder die Anlage zu Wissenschaften und Tugenden von Natur aus; nicht aber ihr vollendetes Wesen. Denn die Natur ist immer auf Eines und zwar auf etwas Beschränktes gerichtet. Die Tugenden aber als solche, als vollendet nämlich, haben nicht immer die eine selbe Weise des Vorgehens; sie sind auf Verschiedenes gerichtet und sind thätig unter den verschiedensten Verhältnissen und Umständen. Von Natur also ist die Vollendung der Tugenden in uns nicht; ausgenommen die theologischen, die ganz und gar von außen kommen.
c) I. und II. Samenkörner für die Tugenden sind von Natur in uns allen, insoweit wir vernünftig sind. III. Vom Körper aus hat jeder eine gewisse Anlage für die eine oder die andere Tugend; und dies ist mit der Geburt gegeben.
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