Vierter Artikel. Die erworbene Tugend und die entsprechende eingegossene sind der Gattung nach verschieden.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Die eingegossene und erworbene Tugend unterscheiden sich nur rücksichtlich des veränderten Zweckes. Der letzte Zweck aber, auf den die eingegossenen Tugenden sich unmittelbar richten, giebt nicht die Gattung den Zuständen und den menschlichen Thätigkeiten, sondern der nächste. Also ist die eingegossene Tugend nicht damit bereits von der entsprechenden erworbenen verschieden. II. Die Zustände werden erkannt durch die Thätigkeiten. Ein und dieselbe Thätigkeit aber gehört an der Mäßigkeit als einer eingegossenen Tugend wie als einer erworbenen; nämlich zu zügeln die Begierlichkeiten des Tastsinnes. Also ist in den Tugenden auch kein Gattungsunterschied. III. Die erworbene und eingegossene Tugend sind unterschieden wie das unmittelbar von Gott Gemachte und das vermittelst der Kreatur Erzeugte. Es ist aber ein und derselbe Mensch der Gattung nach, den Gott gebildet hat und der nun vermittelst der Natur erzeugt wird; wie es der Gattung nach das nämliche Auge ist, welches der Herr dem Blindgeborenen gab und das die Natur herstellt. Also. Auf der anderen Seite verändert ein jeder unterscheidender Grund, welcher zur Definition hinzugefügt wird, die Wesensgattung. Nun wird in der Definition der eingegossenen Tugend neu hinzugesetzt: „Die Gott in uns ohne uns wirkt.“ Also ist die erworbene Tugend, zu welcher dieser Zusatz nicht hinzutritt, der Gattung nach unterschieden von der eingegossenen.
b) Ich antworte; einmal werden die Zustände der Gattung nach unterschieden gemäß den besonderen bestimmenden Unterscheidungsgründen in den Gegenständen. Der Gegenstand einer jeden Tugend aber ist das Gute, soweit es in der ihr eigenen Materie betrachtet wird; wie der Gegenstand der Mäßigkeit z. B. das Gute ist in den Ergötzlichkeiten der Begierden des Tastsinnes, wofür der bestimmende maßgebende Grund der ist, welchen die menschliche Vernunft aufstellt und wo der bestimmbare Teil sich auf seiten der Begierden hält. Offenbar einem anderen bestimmenden oder maßgebenden Grunde aber gehört an die Thätigkeit oder Bewegung, welche in dergleichen Begierden gemäß der Regel der menschlichen Vernunft aufgestellt erscheint wie jene, welche gemäß der Richtschnur der göttlichen Vernunft sich vollzieht. So z. B. ist der maßgebende Grund für das Nehmen von Speisen, wenn die menschliche Vernunft in Betracht gezogen wird, die Gesundheit des Körpers, daß nämlich dieser das Essen nicht schadet; wird aber die Regel des göttlichen Gesetzes erwogen, so ist erfordert, daß „der Mensch seinen Körper züchtige und zum Sklaven mache“ vermittelst des Enthaltens von Speise und Trank und dergleichen. Also ist die eingegossene Mäßigkeit und die erworbene der Gattung nach unterschieden; und das Nämliche gilt von den anderen Tugenden. Dann werden die Zustände unterschieden gemäß dem, worauf sie sich richten. Denn nicht ist es der Gattung nach die gleiche Krankheit: die des Pferdes und die des Menschen, wegen der verschiedenen Naturen, auf welche sie Bezug haben. Und deshalb sagt Aristoteles (3 Polit. 3.): „Verschieden sind die Tugenden der Bürger, je nachdem sie sich verschieden verhalten zu verschiedenen Gemeinwesen, Familie, Staat etc.“ Und danach ebenfalls sind der Gattung nach verschieden die eingegossenen moralischen Tugenden, vermittelst deren die Menschen sich gut verhalten dazu, daß sie „Mitbürger der Heiligen sind und Hausgenossen Gottes,“ und die erworbenen, vermittelst deren sich der Mensch gut verhält zu den menschlichen Sachen.
c) I Auch die Beziehung zu den eigenen Gegenständen ist bei beiderlei Tugenden verschieden. II. In verschiedener Weise legt den Begierden des Tastsinnes Maß und Richtschnur auf die eingegossene Mäßigkeit wie die erworbene. III. Das Auge des Blindgeborenen machte Gott für die nämliche Thätigkeit, welcher das von der Natur geformte dient; und somitt war es von der nämlichen Gattung. Wollte also Gott durch ein Wunder im Menschen die nämlichen Tugenden verursachen, wie sie aus den Thätigkeiten heraus erworben werden, so wäre dies der gleiche Fall. Dies hat aber hier nicht statt.
