Zweiter Artikel. Die Gewohnheit im betreffenden Thätigsein verursacht in uns Tugenden.
a) Dies scheint nicht der Fall zu sein. Denn: I. Röm. 14. steht geschrieben: „Was nicht aus dem Glauben ist, das ist Sünde.“ Dazu sagt Augustin: „Das ganze Leben der Ungläubigen ist Sünde; und nichts ist gut ohne das höchste Gut. Wo die Kenntnis der Wahrheit fehlt, da ist falsch alle Tugend, auch bei den besten Sitten.“ Der, Glaube aber kann nicht von uns verursacht werden durch eigene Thätigkeiten, sondern wird in uns von Gott hervorgebracht, nach Ephes. 2.: „Durch die Gnade seid ihr gerettet vermittelst des Glaubens.“ Also keinerlei Tugend können wir uns erwerben durch Thätigsein. II. Da die Sünde entgegengesetzt ist der Tugend, so verträgt sie sich nicht mit der Tugend. Nur durch die Gnade Gottes aber kann jemand die Sünde vermeiden, nach Sap. 8.: „Ich habe gelernt, ich könne nicht auf andere Weise enthaltsam sein als wenn Gott es giebt.“ Also nur durch das Geschenk Gottes können Tugenden in uns verursacht werden. III. Thätigkeiten, die nicht von der Tugend ausgehen, erreichen nicht die Vollendung der Tugend. Die Wirkung aber kann nicht vollendeter sein wie die Ursache. Also von vorhergehenden Thätigkeiten kann keine Tugend verursacht werden. Auf der anderen Seite sagt Dionysius (4. de div. nom.): „Das Gute ist kräftiger wie das Böse.“ Aus schlechten Thätigkeiten aber werden verursacht schlechte Zustände, Laster. Also desto mehr verursachen gute Thätigkeiten Tugenden.
b) Ich antworte, daß jetzt nicht mehr im allgemeinen von der Erzeugung von Zuständen die Rede ist wie Kap. 51, sondern von Erzeugung der Tugenden. Die Tugend nun vollendet den Menschen zum Guten hin. Da aber das Wesen des Guten besteht nach Augustin (de natura boni c. 3.) im bestimmten Maße, in der gebührenden Form und Ordnung, so wird offenbar, wie auch Sap. 11. das lehrt, das Gute des Menschen gemäß einer gewissen Regel zu betrachten sein. Diese ist nun eine doppelte: die göttliche Vernunft und die menschliche. Und weil die göttliche Vernunft die höhere Regel ist; deshalb erstreckt sie sich auf Mehreres, so daß, was durch die menschliche Vernunft geregelt wird, dies auch ist durch die göttliche; nicht aber umgekehrt. Die Tugend des Menschen also, die auf das Gute ihrem inneren Wesen nach gerichtet ist, kann von den menschlichen Thätigkeiten aus verursacht werden, insoweit das Gute geregelt ist gemäß der Richtschnur der menschlichen Vernunft; denn dergleichen Thätigkeiten gehen von der Vernunft aus, unter deren Gewalt solches Gute sich findet. Die Tugend aber, die den Menschen regelt zum Guten hin, insoweit dieses durch das göttliche Gesetz bestimmt ist und nicht durch die menschliche Vernunft, kann nicht durch menschliche Thätigkeit verursacht werden, sondern nur durch das göttliche Einwirken in uns. Deshalb sagt Augustin (ps. 118, feci judicium) in der Definition der Tugend: „Die Gott in uns ohne uns wirkt.
c) I. Der Einwurf spricht von der Tugend, insoweit sie der höheren Regel in Gott unterliegt. II. Die Tugend, welche Gott in die Seele eingießt, zumal wenn sie in ihrer Vollendung betrachtet wird, verträgt sich nicht mit einer Todsünde. Die vom Menschen erworbene Tugend aber kann mit dem Akte der Sünde bestehen, auch der Todsünde; denn der Gebrauch in uns ist unserem Willen unterworfen. Nicht aber wird durch einen einzigen Akt der Sünde der ganze Zustand der Tugend verdorben; denn einem Zustande steht gegenüber nicht ein Akt, sondern ein Zustand. Und deshalb kann wohl ohne Gnade der Mensch keine Todsünde vermeiden, so zwar, daß er niemals eine solche beginge; er wird dadurch aber nicht gehindert, daß er einen Zustand der Tugend erlangen kann, vermittelst dessen er sich in den meisten Fällen der bösen Werke enthält und zumal solcher, welche der Vernunft in hohem Grade zuwider sind. Gewisse Todsünden aber kann der Mensch ohne die Gnade in keiner Weise vermeiden; die nämlich unmittelbar entegengesetzt sind den theologischen Tugenden, welche die Gnade in uns wirkt. Doch darüber gleich. III. Samenkörner existieren in uns für die Tugenden, die wir erwerben können, der Natur selber nach. Und diese Samenkörner oder Principien sind in uns erhabener wie die Tugenden, die durch deren Kraft wir erwerben. So ist auch das Verständnis der allgemeinen Grundprincipien für das theoretische Wissen in uns höher wie die Wissenschaft, welche die Schlußfolgerungen umfaßt; und die natürliche Geradheit der Vernunft steht höher wie die Geradheit des Begehrens, welches nach der Vernunft sich richtet und die da zur moralischen Tugend gehört. So also können die menschlichen Akte, insoweit sie von höheren Principien ausgehen, verursachen die erworbenen menschlichen Tugenden.
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