Zweiter Artikel. Die moralischen Tugenden können nicht sein ohne die heilige Liebe
a) Dies scheint aber doch der Fall zu sein. Denn: I. Prosper (lib. sent. cap. 7.) sagt: „Außer der heiligen Liebe kann jede Tugend Guten und Bösen gemeinsam sein.“ Die Liebe aber kann nur in den Guten sein. Also können die übrigen Tugenden ohne die Liebe sein. II. Die moralischen Tugenden können erworben werden durch Thätigkeit. Die heilige Liebe aber besteht nur kraft Eingießens, nach Röm. 5.: „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in eueren Herzen durch den heiligen Geist, der euch gegeben worden.“ III. Die moralischen Tugenden sind verknüpft miteinander in der Klugheit. Die Liebe aber überragt die Klugheit, anstatt davon abzuhängen; nach Eph. 3.: „Die allüberragende Liebe der Wissenschaft Christi.“ Auf der anderen Seite steht geschrieben 1. Joh. 3.: „Wer nicht liebt, bleibt im Tode.“ Durch die Tugenden aber wird vollendet das Leben des Geistes. Also können sie nicht ohne Liebe sein.
b) Ich antworte, insoweit die moralischen Tugenden Beziehung haben zu dem der Natur entsprechenden Zwecke und somit durch Thätigkeit erworben werden können, sind die in dieser Weise erworbenen ohne die heilige Liebe und so waren sie in vielen Heiden. Soweit aber sie zum letzten übernatürlichen Zwecke des Menschen im gebührenden Verhältnisse stehen, sind sie vollkommene Tugenden; und so werden sie nicht durch menschliche Thätigkeit erworben, sondern unmittelbar eingegossen von Gott. Und dergleichen Tugenden können nicht ohne die heilige Liebe sein. Denn es ist eben gesagt worden, wie die erworbenen moralischen Tugenden nicht ohne die Klugheit sich finden können. Die Klugheit aber kann wieder ihrerseits nicht ohne die moralischen Tugenden sein, insoweit diese bewirken, daß man sich gebührend verhält zu gewissen vorliegenden Zwecken, von denen der maßgebende Grund für die Übung der Tugenden, den die Klugheit in sich vorbereitet, als von den Principien ausgeht. Damit aber die Klugheit recht den Weg zeige, ist es noch weit mehr erforderlich, daß sich der Mensch gebührend verhalte zum letzten Endzwecke, was vermittelst der heiligen Liebe geschieht, wie daß er sich gut verhalte zu den übrigen Zwecken, was vermittelst der moralischen Tugenden geschieht. So bedarf ja auch die Vernunft im höchsten Grade des ersten unbeweisbaren Princips, des Widerspruchprincips nämlich, daß nicht ein und dasselbe zugleich sein und nicht sein kann. Also kann weder die eingegossene Klugheit ohne die heilige Liebe sein noch folgegemäß können es die anderen, die nicht ohne die Klugheit sein können. Somit sind nur die eingegossenen Tugenden schlechthin vollendete Tugenden; denn sie ordnen den Menschen hin zum schlechthin letzten Zwecke. Die anderen Tugenden, die erworbenen, sind nur unter gewissen Grenzen, nach einer Seite hin (secundum quid), wirklich Tugenden. Denn sie regeln den Menschen nur rücksichtlich eines begrenzten Zweckes, des Zweckes innerhalb einer bestimmten Seinsart; nicht rücksichtlich des schlechthin letzten Zweckes. Deshalb sagt Augustin (Glosse zu Röm. 14, 23.): „Wo die Wahrheit nicht anerkannt ist, da ist falsch die Tugend, auch bei den besten Sitten.“
c) 1. Die Tugenden werden da als unvollkommene genommen. Denn ist eine Tugend vollkommen, so macht sie „gut den, der sie hat“; und folglich kann sie nicht in den Bösen sein. II. Dies betrifft die erworbenen Tugenden, III. Die Klugheit hängt von der heiligen Liebe ab; und folglich ist dies der Fall mit allen anderen eingegossenen Tugenden.
