Vierter Artikel. Der Glaube und die Hoffnung können sein ohne die heilige Liebe.
a) Das scheint niemals der Fall sein zu können. Denn: I. Die theologischen Tugenden sind höher in der Würde wie die moralischen, auch wenn diese eingegossen sind. Diese aber können nicht ohne die Liebe sein. Also auch jene können es nicht. II. „Niemand glaubt außer mit freiem Willen“ sagt Augustin (26. in Joan). Die heilige Liebe aber ist die Vollendung des Willens. III. Augustinus schreibt im Enchiridion cap. 8.: „Die Hoffnung kann nicht sein ohne die Liebe.“ Auf der anderen Seite sagt die Glosse zu Matth. 1.: „Der Glaube erzeugt die Hoffnung, die Hoffnung aber die Liebe.“ Was nun erzeugt, ist früher wie das Erzeugte und kann ohne dieses sein. Also kann der Glaube und die Hoffnung ohne die Liebe sein.
b) Ich antworte, Glaube und Hoffnung können gleichwie die moralischen Tugenden in doppelter Weise betrachtet werden: einmal gemäß einem gewissen Anfange (oder natürlichen Anlage bei den moralischen Tugenden s. ob.); dann als vollendete Tugenden. Denn da die Tugend dazu vorhanden ist, um gut zu wirken, so wird eine Tugend dann als vollendete angesehen, wenn sie geeignet ist, ein gutes Werk in vollkommener Weise gut zu machen; was nämlich geschieht, wenn nicht nur das gute Werk vollbracht wird, sondern wenn es auch in gehöriger guter Weise sich vollzieht. Wenn jemand z. B. Gerechtes thut, da thut er Gutes; aber das Wirken wird nicht vollendet sein, wenn er das Gerechte nicht in gebührender Weise thut d. h. gemäß der rechten Auswahl, welche sich vollzieht vermittelst der Klugheit. Und so ist die Gerechtigkeit ohne die Klugheit unvollkommen. So können also Glaube und Hoffnung wohl einigermaßen sein ohne Liebe; aber als vollendete Tugenden können sie in diesem Falle nicht angesehen werden. Denn da das Werk des Glaubens darin besteht, Gott zu glauben, glauben aber jemandem heißt: mit eigenem Willen zustimmen, so wird, wenn dieser Wille nicht durch die heilige Liebe vollendet ist, das Werk des Glaubens unvollkommen sein. Denn „alle rechte Thätigkeit des Willens kommt von der Liebe,“ sagt Augustin. (14. de civ. Dei 9.) Es kann also Glaube wohl sein ohne Liebe, aber nicht als vollkommene Tugend; wie die Mäßigkeit nicht vollkommen ist ohne die Klugheit. Ähnlich verhält es sich mit der Hoffnung. Denn das von ihr ausgehende Wirken ist: die zukünftige Seligkeit von Gott erwarten. Dieses Wirken ist vollkommen, wenn es sich auf die Verdienste stützt, die jemand hat; und diese Verdienste kommen ja immer aus der Liebe als erster Quelle. Wenn er aber dies hofft infolge der Verdienste, die er noch nicht hat, sondern meint, erlangen zu können, so wird das Hoffen ein unvollkommenes sein; und das kann sein ohne Liebe. Also Glaube und Hoffnung können sein ohne die heilige Liebe, aber es sind dann keine vollendeten Tugenden; denn dies verlangt, daß das Gute gut geschehe.
c) I. Die moralischen Tugenden können nicht sein ohne die Klugheit. Die eingegossene Klugheit aber hat nicht den Charakter der Klugheit ohne die heilige Liebe, weil sonst das rechte Verhältnis zum ersten Princip, als zu dem letzten Zwecke, fehlen würde. Glaube und Hoffnung aber hängen in ihrer Natur weder von der Klugheit ab noch von der Liebe; und so können sie, freilich unvollkommen, ohne Liebe sein. II. Hier wird gesprochen vom Glauben als vollendeter Tugend. III. Augustin spricht von der Hoffnung auf die Seligkeit, die sich auf bereits vorhandene Verdienste gründet. L.
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